Dieses Bild zeigt Prof. Dr. Brigitta Sträter

„Contergan und Soziale Arbeit: Miteinander sprechen statt übereinander“

Prof. Dr. Birgitta Sträter lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln in den Themengebieten Sozialmedizin und Medizinische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Seit 2022 lädt sie regelmäßig Sofia Plich als Gastrednerin ein zu einer Vorlesung für Bachelor- und Masterstudierende. Die Diplom-Sozialarbeiterin ist selbst von einer Conterganschädigung betroffen. Im Rahmen einer zweistündigen Veranstaltung erhalten die Studierenden die Chance, mehr über den Conterganskandal und den Alltag einer Betroffenen zu erfahren.  

Frau Prof. Sträter, wie kam es dazu, dass Sie Contergan und seine Auswirkungen bei Ihren Studierenden zum Thema machten?

Die Anregung kam vor einigen Jahren von einer Studierenden, Sabine Kuxdorf. Sie hatte ein Praktikum bei der Conterganstiftung absolviert und im Rahmen eines von ihr produzierten Podcasts auch Interviews mit Menschen mit Conterganschädigung gemacht. So entstand der Kontakt zu Sofia Plich, die bereit dazu war, erstmals 2022 in die Vorlesung zu kommen und Fragen der Studierenden zu beantworten. Erstaunlicherweise hatte die Mehrheit der Studierenden kein Vorwissen über den Conterganskandal und seine bis heute wirkenden Folgen. Wir fanden es schade, wenn es nur bei einer einmaligen Veranstaltung geblieben wäre und haben uns deshalb dazu entschieden, das jährlich zu wiederholen. Das Thema ist ja nach wie vor bedeutsam wegen des Alters der Betroffenen, der Folgeerkrankungen und wegen des steigenden Unterstützungsbedarfs der Betroffenen auch in Bezug auf Anträge und Bewilligungen. Frau Plich kommt seitdem einmal im Jahr zu den Studierenden im Bachelor- und Masterbereich, um aus ihrem Leben zu berichten und Fragen zu beantworten.

Wie läuft die Veranstaltung ab?

Ich gebe zunächst eine etwa 20-minütige Einführung zu den historischen Hintergründen des Conterganskandals, denn nur wenige Studierende wissen etwas darüber oder haben von ihren Eltern etwas dazu erfahren. Dann ist Sofia Plich dran. Sie stellt sich und ihren Werdegang vor. Was ich besonders bereichernd empfinde, ist, dass sie beide Perspektiven verkörpert: Die der Betroffenen, aber auch die der langjährigen Sozialarbeiterin, die die Herausforderungen des Berufs kennt und weiß, worauf es bei der Sozialen Arbeit ankommt und wo Fragestellungen und Herausforderungen gerade bei dieser Thematik liegen. Viele der Betroffenen haben individuelle Unterstützungsbedarfe und erleben im Alter die langfristigen Folgen ihrer Behinderung. Nicht wenige haben zugleich ein schlechteres soziales Netzwerk als nichtbehinderte Menschen. Für die Studierenden bietet das Gespräch mit Frau Plich die im Studium eher seltene Möglichkeit, deren direkte Perspektive und Erfahrungen kennenzulernen und eigene Fragen offen stellen zu können.

Sie hat eine sehr lebhafte Art zu erzählen und zudem auch Erfahrung auf der Theaterbühne gesammelt. Deshalb ist das Eis schnell gebrochen und sie stellt sich ganz offen den Fragen. So haben die Studierenden auch keine Berührungsängste und können nicht nur ihrer Neugier freien Lauf lassen, sondern auch fachliche Fragen stellen. Es wird darüber gesprochen, wie Menschen im Alltag auf sie zugehen, wie wichtig ein Assistenzhund ist, aber auch darüber, dass Menschen mit sichtbaren körperlichen Behinderungen in der Interaktion nicht selten Fähigkeiten abgesprochen und sie beispielsweise nicht ernst genommen werden. Für viele Studierende ist das Treffen mit Frau Plich eine einschneidende Begegnung, die ihnen ganz neue Erfahrungen vermittelt und lange nachhält.

Warum ist es so wichtig, angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Menschen mit Conterganschädigung zu sensibilisieren?

Da gibt es mehrere Facetten. Zu einen ist es so, dass viele Studierende, wenn sie zu Beginn ihres Studiums nach ihren späteren Berufswünschen gefragt werden, die Kinder- und Jugendhilfe nennen. Das liegt möglicherweise daran, dass sie selbst noch jung sind und dieses Thema vertraut empfinden. Das Thema Conterganschädigung und körperliche Behinderung öffnet ihnen die Augen für andere Bereiche der Sozialarbeit. Zum anderen soll der Umgang mit Behinderung aber auch insbesondere das Thema Contergan und die Folgen als gesellschaftliches Thema verstanden werden. Und dann ist es ganz wichtig, vordergründig den Menschen zu sehen und nicht allein seine Behinderung. Das ist die besondere Herausforderung der Sozialen Arbeit und das kann ich mit solchen Veranstaltungen mit Frau Plich sehr gut vermitteln. Zuletzt ist, wie bereits erwähnt, Contergan ein lebenslanges Thema, das so lange relevant ist, wie die Betroffenen leben und Unterstützung benötigen. Es findet ggf. zeitlebens eine Begleitung durch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen statt, es gibt besondere Bedarfe im Alter, Anträge müssen gestellt werden und vieles mehr. Dafür brauchen wir auch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von morgen.

Laden Sie häufiger kranke oder behinderte Menschen in Ihre Veranstaltungen ein, die aus ihrem Leben oder ihrem Umfeld berichten?

Ich habe gelegentlich Peer-Berater im Kontext psychischer Störungen zu Gast oder Vertreter des sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt Köln. Das sind dann aber eher Menschen die „über“ ein bestimmtes Themenfeld berichten und weniger solche, die „damit“ leben. Ziel ist, Menschen einzuladen, deren Expertise breit aufgestellt ist.

Welche Resonanz bekommen Sie von Studierenden auf Ihre Veranstaltung?

Die Veranstaltung ist nicht verpflichtend für alle Studierenden und es gibt auch keine Anwesenheitspflicht für Vorlesungen, aber wir merken doch, dass von Mal zu Mal mehr Studierende gerade diese Veranstaltung besuchen und das Interesse daran steigt, weil es sich offenbar herumspricht, dass das eine interessante Veranstaltung ist und der Besuch der Vorlesung spannend ist. Das lohnt sich auch deshalb für die jungen Leute, weil man bei der Sozialen Arbeit einfach nicht darum herumkommt, miteinander zu sprechen und nicht übereinander. Auf Augenhöhe miteinander reden, das ist die Grundlage einer erfolgreichen Sozialen Arbeit und ein Gewinn für die Zukunft. Deshalb stehe ich voll und ganz hinter dem Veranstaltungsformat. Die Folgen des Conterganskandals wirken bis in die Gegenwart hinein. Erst dadurch wurden die heutigen Arzneimittelgesetze entwickelt und Prüfverfahren enorm verschärft. Das gibt uns heutzutage im Umgang mit Medikamenten viel mehr Sicherheit.

 

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