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Rechtmäßigkeit der Abänderung bestandskräftiger Bescheide

Hinweis: Seit Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes am 19.08.2020 dürfen Leistungsansprüche gemäß § 16 Absatz 1 Satz 2 ContStifG nur noch aberkannt werden, wenn die Ansprüche auf vorsätzlich unrichtigen oder vorsätzlich unvollständigen Angaben der leistungsberechtigten Person beruhen. Für die betroffenen Menschen mit Conterganschädigung und die Conterganstiftung konnte so glücklicherweise Rechtssicherheit hergestellt werden. Der Gesetzgeber hat die Leistungen an die Menschen mit Conterganschädigung hierdurch zudem als besonders schützenswert gewürdigt und damit die Rechtsauffassung der Stiftung bestätigt.

Der nachfolgende Beitrag über das Gutachten zur „Rechtmäßigkeit der Abänderung bestandskräftiger Bescheide“ wurde in der Zeit vor dem Gesetzgebungsverfahren zur Herstellung größtmöglicher Transparenz veröffentlicht und soll an dieser Stelle zu dokumentarischen Zwecken erhalten bleiben.

 

Der Vorstand der Conterganstiftung für behinderte Menschen hat am 06.07.2018 ein Rechtsgutachten zum Thema "Rechtmäßigkeit der Abänderung bestandskräftiger Bescheide" in Auftrag gegeben. Ziel war es den Menschen mit Conterganschädigung und auch der Stiftung Rechtssicherheit zu folgender Fragestellung zu geben: Wie ist zu entscheiden, wenn es in der Vergangenheit zu Fehlern bei dem Verfahren zur Leistungsgewährung gekommen ist?

Die Conterganstiftung zeigt im Folgenden exemplarisch fünf Fallkonstellationen auf, in denen das Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Conterganstiftung bestandskräftige Bescheide abändern muss. Alle Beispiele beziehen sich auf Prüfungspunkte des Gutachtens, das ergänzend dazu in ganzer Länge hier auf CIP veröffentlicht ist und zeigen, dass jeweils eine Würdigung der individuellen Umstände in die Bewertung einfließen muss.

Unabhängig von diesem Gutachten hat sich der Vorstand der Conterganstiftung für eine Gesetzesänderung bei der Leitung des BMFSFJ und Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfolgreich eingesetzt, die den Anerkennungsstatus von Betroffenen - und damit auch den der brasilianischen Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern -  vor Abänderung schützt. Die Initiative zur kurzfristigen und erfolgreichen Einbringung des entsprechenden Gesetzentwurfs ging von den beiden für die Conterganstiftung zuständigen Berichterstattern der Regierungsfraktionen Frau Ursula Schulte, MdB (SPD) und Herrn Stephan Pilsinger, MdB (CDU/CSU) aus.

Fallkonstellation 1 - Die Rente wurde auf Basis eines Irrtums bewilligt.

Sachverhalt:

Die Antragstellerin A stellt 1985 den Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem (Conterganstiftungsgesetz) ContStifG. Nach Durchsicht der Antragsunterlagen berät die Medizinische Kommission und empfiehlt der Conterganstiftung, den Antrag anzunehmen. Die Conterganstiftung berechnet die Punkte nach der Conterganrententabelle mit 43 Punkten. Die Antragstellerin erhält somit seit 1985 eine Conterganrente von zuletzt monatlich 3.500,00 Euro (aufgrund der Rententabelle vom 01.07.2018).

Im Jahre 2018 stellt die Conterganstiftung bei einer Überprüfung des Falles und unter Einschaltung der Medizinischen Kommission fest, dass bei der Antragstellerin keinerlei thalidomidbedingte Schäden vorliegen. Die Entscheidung im Jahre 1985 beruhte auf einem Irrtum.

Die Antragstellerin ist davon ausgegangen, dass ihr die Rente zu Recht erteilt worden ist und ihr ein Leben lang zusteht. Sie hat die monatlichen Rentenzahlungen für ihre Lebensführung vollständig verbraucht und verfügt neben ihrer Rente über ein Einkommen von 3.000,00 Euro (netto).

Rechtliche Wertung:

Die Stiftung hat zu entscheiden, die fehlerhaft erhaltene Rentenleistung für die vergangenen 33 Jahre nicht zurückzufordern. Die Antragstellerin durfte in der Vergangenheit auf den Bestand des Bescheides aus dem Jahre 1985 vertrauen, sodass gemäß § 48 Absatz 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) die Geldleistung nicht zurückgefordert werden darf.

Etwas anderes gilt jedoch für die Zukunft. Da die Antragstellerin über ein ausreichendes Erwerbseinkommen verfügt und keinerlei Vermögensdispositionen in Bezug auf die Rente für die Zukunft getroffen hat, ist die Stiftung gehalten, den Rentenbe-scheid aufzuheben und zukünftig keine Rente mehr an die Antragstellerin zu zahlen. Das Vermögen der Stiftung ist in diesem Fall zu schützen.

(vgl. Gliederungsnummer D1, ab Seite 27 des Gutachtens)

Fallkonstellation 2 - Die Rente wird aufgrund falscher Dokumente bewilligt.

Sachverhalt:

Antragsteller B stellt 2010 bei der Conterganstiftung einen Rentenantrag. Diesem hat er Gesundheitszeugnisse und ärztliche Bescheinigungen beigefügt, die er gefälscht hat, was jedoch bei der Conterganstiftung nicht erkannt wird. Aufgrund der eingereichten Unterlagen gewährt die Stiftung dem Antragsteller eine Conterganrente. 2017 fällt bei einer Prüfung dieses Falles auf, dass die von B eingereichten Gesundheitszeugnisse gefälscht sind. Bei einer weiteren Nachprüfung stellt man fest, dass B keinerlei thalidomidbedingte Schädigungen aufweist.

Rechtliche Wertung:

Die Conterganstiftung ist gehalten, die Rente aufzuheben und die bisher geleisteten Rentenzahlungen in voller Höhe zurückzuverlangen. Dieser Anspruch wird gegenüber dem Rentenempfänger geltend gemacht. Die Conterganstiftung muss in diesem Fall gemäß § 48 Absatz 2 Nummer 1 VwVfG die Zahlung zurückfordern, weil B die Leistung durch eine Täuschung erwirkt hat.

(vgl. Gliederungspunkt D1, ab Seite 29 des Gutachtens)

Fallkonstellation 3 - Neue medizinische Erkenntnis führen zu einer Neubewertung der Rentenhöhe.

Sachverhalt:

Die Antragstellerin C reicht 1990 einen Antrag auf Gewährung von Leistungen wegen Conterganschäden ein. Nach Prüfung des Sachverhalts und unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Medizinischen Kommission errechnet die Conterganstiftung anhand der vorliegenden Körperschäden auf der Grundlage der Conterganrententabelle 30 Punkte. Die Antragstellerin C erhält daraufhin eine Rente in Höhe von zuletzt monatlich 2.275,00 Euro (aufgrund der Rententabelle vom 01.07.2018).

2019 wird bei einer Überprüfung des Falles aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse festgestellt, dass bei der Antragstellerin nur geringere Körperschäden vorliegen, sodass ihr tatsächlich nur 20 Punkte zustehen. Die Antragstellerin verfügt neben der Rente noch über ein Erwerbseinkommen in Höhe von 2.500,00 € (netto). In der Vergangenheit hat sie die erhaltenen Rentenzahlungen für ihren Lebensunterhalt vollständig verbraucht.

Rechtliche Wertung:

Die Conterganstiftung ist gehalten, den Punktwert bei der Antragstellerin für die Zukunft von 30 auf 20 Punkte zu reduzieren und zukünftig nicht mehr - wie bisher - 2.275,00 Euro monatlich zu bezahlen, sondern 1.455,00 Euro. Gemäß § 48 Absatz 2 VwVfG ist das in der Vergangenheit zu viel bezahlte Geld bei Frau C zu belassen, denn diese hat die Rentenleistung für ihre Lebensführung im Vertrauen auf die Zusage aus dem Jahr 1990 verbraucht. Da der Verwaltungsakt jedoch rechtswidrig war und es damit an einem Rechtsgrund mangelt, muss die Conterganstiftung die Leistungen für die Zukunft reduzieren.

(vgl. Gliederungspunkt D2, ab Seite 37 des Gutachtens)

Fallkonstellation 4 - Die Neubewertung weicht von den ursprünglich zugewiesenen Punktwerten ab.

Sachverhalt:

Die Antragstellerin E beantragt 1993 eine Rente bei der Conterganstiftung aufgrund der bei ihr bestehenden Schädigungen, die auf der Einnahme von thalidomidhaltigen Präparaten während der Schwangerschaft durch ihre Mutter beruhen. Die medizinische Kommission bewertet die einzelnen Körperschäden. Dabei wird für den Körperschaden eins ein Wert von 10 Punkten angesetzt, für den Körperschaden zwei 5 Punkte und für den Körperschaden drei 12 Punkte. Die Antragstellerin erhält daraufhin einen Rentenbescheid auf der Grundlage eines Punktewertes von 27 Punkten.

2015 beantragt E eine Neubewertung der bei ihr bestehenden Körperschäden. Die medizinische Kommission kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Körperschaden eins mit 5 Punkten zu bewerten ist und der Körperschaden zwei mit 10 Punkten, während der Körperschaden drei weiterhin mit 12 Punkten zu bewerten ist.

Rechtliche Wertung:

Die Addition sämtlicher Punktewerte ergibt nach wie vor 27 Punkte, sodass der ursprüngliche Bescheid nicht geändert werden muss. Auch hier muss die Conterganstiftung so entscheiden, weil der ursprüngliche Verwaltungsakt aus dem Jahr 1993 rechtmäßig war. Denn der Antragstellerin E stehen 27 Punkte zu. Dass sich die Kriterien für die Berechnung verändert haben, ändert nichts daran, dass im Ergebnis der Bescheid rechtmäßig ist, sodass es bei diesem Bescheid verbleiben muss.

(vgl. Gliederungsnummer D3, ab Seite 38 des Gutachtens)

Fallkonstellation 5 - Aufgrund eines Fehlers bei der Stiftung wurde eine zu hohe Rente bezahlt.

Sachverhalt:

Der Antragsteller D beantragt 1995 eine Rente bei der Conterganstiftung aufgrund der bei ihm bestehenden Körperschäden, die auf der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate während der Schwangerschaft durch seine Mutter beruhen. Nach Prüfung der Unterlagen durch die Medizinische Kommission der Conterganstiftung ergibt sich, dass bei dem Antragsteller Körperschäden vorliegen, nach denen ihm 30 Punkte nach der Rententabelle zustehen. Aufgrund eines Bearbeitungsfehlers wird ihm jedoch eine Rente ab 1995 auf der Grundlage von 60 Punkten gewährt.

Nach Erhalt des Rentenbescheides beschließt der Antragsteller, ein behindertengerechtes Haus zu bauen. Er nimmt hierfür im Jahre 1995 bei der Sparkasse ein Darlehen auf, das über 30 Jahre zu tilgen und dessen letzte Rate 2025 zu zahlen ist. Die Conterganstiftung erkennt im Jahr 2020 bei einer Prüfung des Falles den Fehler und stellt fest, dass dem Antragsteller lediglich 2.275,00 Euro im Monat zustehen und nicht, wie bisher gezahlt, 4.982,00 Euro. Antragsteller D verfügt neben der Conterganrente über kein nennenswertes Einkommen.

Rechtliche Wertung:

D hat im Vertrauen auf die Rente der Conterganstiftung das Darlehen bei der Sparkasse aufgenommen, das noch fünf Jahre zurückzuzahlen ist. Aus diesem Grunde hat die Conterganstiftung zu entscheiden, den rechtswidrigen Verwaltungsakt aus dem Jahre 1995 in der Weise abzuändern, dass der Antragsteller weiterhin monatlich eine Rente in Höhe von 4.982,00 Euro auf der Grundlage von 60 Punkten erhält, jedoch befristet bis zum Darlehensende am 31.12.2025. Danach wird die Rente abgesenkt auf die 2.275,00 Euro, die dem Antragsteller bei 30 Punkten zustehen.

Auch hier hat sich die Conterganstiftung an § 48 VwVfG zu halten. Zwar ist der Bescheid aus dem Jahr 1995 rechtswidrig, weil er mit 60 Punkten einen zu hohen Wert festgelegt hat. Da D aber im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides aus dem Jahr 1995 ein Darlehen aufgenommen hat, das noch bis zum Jahr 2025 zu bedienen ist, hat er eine Vermögensdisposition getroffen, die schutzwürdig ist. In diesen Fällen muss die Conterganstiftung gemäß § 48 Absatz 2 VwVfG die Leistung noch so lange aufrechterhalten, wie diese Schutzbedürftigkeit besteht - im vorliegenden Fall bis zur Beendigung des Darlehens 2025. Mit Ende dieser Vermögensdisposition muss die überhöhte Zahlung eingestellt werden und anschließend die Zahlung erfolgen, die D bei einem rechtmäßigen Bescheid zusteht.

 

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Vollständiges Gutachten