Das Bild zeigt verschiedene Mikrofone in einer Reihe

Betroffene sind Berater in eigener Sache

Bereits 2023 wurden die Verbandspatenschaften durch die Conterganstiftung initiiert. Im Vordergrund dieser Patenschaften steht der direkte Austausch mit den Betroffenen. Sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache und können den Kompetenzzentren helfen, die Weiterentwicklung der Behandlungs- und Versorgungsangebote für Menschen mit Conterganschädigung bedarfsspezifisch zu identifizieren und bei der Umsetzung zu begleiten.
Doch wie gestaltet sich so eine Patenschaft?

Wir haben alle Verbandspaten zur Teilnahme an einem Sammelinterview zum Thema „Verbandspatenschaft mit einem Kompetenzzentrum“ angefragt. Erfreulicherweise war die Bereitschaft hoch. Die Antworten der Landesverbände in alphabetischer Sortierung können Sie im folgenden Interview nachlesen. Dieses wird aufgrund der Länge in zwei Teile unterteilt.

Eine Übersicht der geförderten Kompetenzzentren finden Sie hier.

Den ersten Teil des Sammelinterviews finden Sie hier.

 

Welchen Mehrwert bringt das medizinische Kompetenzzentrum der Conterganstiftung in Ihrer Region den Menschen mit Conterganschädigung?

LV Niedersachen: Der Mehrwert bei der DIAKOVERE Hannover ist, dass das Kompetenzzentrum viele Fachgebiete unter einem Dach sammelt. Dadurch entstehen kurze Wege für den schnellen fachlichen Informationsaustausch. Zudem geht das Zentrum auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sehr individuell ein.

Das Patientenmanagement zeichnet sich durch gebündelte Terminvergaben und großzügige Behandlungszeiträume aus. Das hat den großen Vorteil für all diejenigen Betroffenen, die einen langen Anfahrtsweg haben, dass sie in einem Behandlungszeitraum mehrere Angebote wahrnehmen können und nicht für jeden Termin neu anreisen müssen.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Wenn wir zurückschauen auf die Zeit vor 2011, dann hatten wir bundesweit eine chronische und sehr dramatische medizinische Unterversorgung. Die Studien in Heidelberg, Nümbrecht und Köln haben dieses eindrücklich und ausführlich beschrieben. Die Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB), gerade auch in Nümbrecht, Aachen und Köln, haben sich aus der Notwendigkeit herausgebildet und sind inzwischen geförderte Kompetenzzentren der Conterganstiftung. Begleitet wurden sie von uns Menschen mit Conterganschädigung, um die Unterversorgung oder teilweise auch nur einseitige medizinische Versorgung zu verbessern. Auch der Zugang zu einer fundierten, medizinisch fachlich versierten und erfahrenen conterganspezifischen Behandlung musste überhaupt erst möglich gemacht werden.

Der Mehrwert bei den Kompentenzzentren der Dr. Becker Rhein-Sieg Klinik, Uniklinik Aachen und Köln liegt darin, dass dort das gebündelte Wissen zu den verschiedenen Fachbereichen wie Neurologie, Psychosomatik, Orthopädie und Osteopathie sowie in den Bereichen Allgemeinmedizin, Innere Medizin etc. bereitgehalten wird.

Auch die notwendigen, ergänzenden conterganspezifischen Therapien und Anwendungen sind eine enorme Bereicherung. Durch die Bündelung des Wissens und den immer größer werdenden Erfahrungsschatz beim Umgang mit contergangeschädigten Patienten profitieren wir alle davon. Zudem wird das Wissen durch Schulungen und Begegnungen auch an andere Ärzte und Therapeuten weitergegeben. Das führt letztendlich zu einer verbesserten medizinischen Versorgung für uns alle.

 

Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum aus?

LV Niedersachen: Der Austausch findet regelmäßig statt. Entweder persönlich, per Mail oder auch telefonisch.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Der Interessenverband Contergangeschädigter NRW e.V. ist für die multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren in Aachen, Nümbrecht und Köln Verbandspate. Das bedeutet für uns nicht nur Ansprechpartner zu sein, sondern auch Multiplikator, Informant und Ideengeber.

Als Pate hat der Verband die Aufgabe, die Zentren zu besuchen, bei der Gestaltung der Behandlungszimmer und anderer Räume zu beraten und zu unterstützen. Auch die Kontaktaufnahme oder Vermittlung von Wissen über die Besonderheiten und Bedarfe der Menschen mit Conterganschädigung gehört zu unseren Aufgaben. Dadurch sollen sich die Bedingungen vor Ort verbessern.

Wichtig sind hier die regelmäßigen Gespräche mit den jeweiligen Zentren, auch in Form von Präsenztreffen. Zudem versuchen wir den Austausch der Zentren untereinander zu fördern, sodass die Zentren sich nicht nur kennen, sondern auch bei Bedarf untereinander verweisen können. Ziel ist es, im stetigen Prozess die Einrichtungen zu verbessern, in jeder Hinsicht barriereärmer zu gestalten und immer wieder für die Besonderheiten von uns Menschen mit Conterganschädigung zu werben. Zum Beispiel für den besonderen Assistenzbedarf in Kliniken, Reha- und ambulanten Einrichtungen oder die Bedarfe im Patienten- oder Behandlungszimmer.

 

Wie treten die einzelnen Betroffenen mit ihren Anliegen an Sie heran? Wie können Sie Ihre Ideen und Vorstellungen und die der anderen Betroffenen in die Weiterentwicklung der Zentren einbringen?

LV Niedersachen: Oftmals telefonisch oder per Mail. Aber auch in persönlichen Gesprächen werden Ideen eingebracht. Dabei erörtern wir gemeinsam mit den Betroffenen das Für und Wider dieser Ideen. Denn meistens sind die Bedürfnisse der Betroffenen sehr individuell aufgrund der unterschiedlichen Schädigungen. Da ist es oft schwierig einen gemeinsamen Nenner zu finden, der dann als konstruktive Anregung an die Kompetenzzentren herangetragen werden kann.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Die Anliegen und Bedarfe von Betroffenen gelangen zu uns über den direkten Kontakt zwischen uns, dem Vorstand und den Betroffenen, da wir uns in vielen von uns angebotenen Workshops zu Themen wie Wohnen, Pflege aber auch in Freizeitveranstaltungen wie Stammtischen in Präsenz treffen. Auch in digitalen Veranstaltungen z.B. Frauentreff oder Männertreff, Kaffeekränzchen und besonders durch unseren Peer- Support erfahren wir viel über die Bedarfe, Wünsche und Nöte direkt von den Betroffenen.

Diese Erfahrungen und das Wissen bringen wir selbstverständlich aktiv und engagiert zu den multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren und setzen uns dort für die Umsetzung ein. Außerdem haben wir aktiv Gruppenbesuche zum Kennenlernen angeboten, so dass sich immer 10-15 Menschen für einige Stunden das jeweilige Zentrum in Nordrhein-Westfalen ansehen können und dadurch auch die Hemmschwelle des ersten Kontakts verringert werden kann.

 

Wie schwer ist es, die spezifischen Anforderungen von Menschen mit Conterganschäden als praktisch umsetzbare Empfehlungen zu formulieren, damit die Zentren von Ihrer Expertise profitieren können? Sie müssen schließlich aus einem Ihnen aufgefallenen bzw. angetragenen Bedarf eine Anregung machen.

LV Niedersachen: Bei uns Betroffenen haben wir es mit einer Vielzahl an Schädigungsbildern zu tun. Da gestaltet es sich etwas schwieriger eine umsetzbare Empfehlung zu formulieren.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Wir sind bemüht, den individuellen Bedarf zu berücksichtigen und die Bedenken, Schwierigkeiten, Ängste und Anregungen direkt an die multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren weiterzugeben. Ergänzend nutzen wir unsere Mitarbeitenden im Verband, die Fachfrauen und -männer für Themen wie Pflege, Hilfsmittel und Wohnumfeld- und Raumgestaltung für Menschen mit Conterganschädigung sind. Sie sind ebenso wie die Peer-Supporter nah dran an den Menschen mit Conterganschädigungen und können gemeinsam mit den Betroffenen und den multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren Lösungen suchen und im Zentrum umsetzen. Das ist insofern wichtig, als dass ein spezifisches Anliegen oftmals nur für einen Teil der Betroffenen hilfreich ist, da unsere Schädigungsbilder sehr individuell sind. Es besteht ein immenser Unterschied in den Bedarfen bei beispielsweise Vierfachgeschädigten oder Rollstuhlfahrern. Aus diesem Grund versuchen wir aktuell das Problem direkt aufzugreifen, mit den Fachleuten zu besprechen, nach Lösungen zu suchen und mit den multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren vor Ort umzusetzen.

 

Wie evaluieren Sie die bisherigen Entwicklungsschritte und wie planen Sie Ihre Empfehlungen für den weiteren Ausbau des Angebots der Zentren?

LV Niedersachen: In unseren jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen tauschen wir uns diesbezüglich aus und erfragen die unterschiedlichen Erfahrungen, die unsere Mitglieder mit den Kompetenzzentren gemacht haben.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Hier muss ich differenzierter antworten. Das multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentrum in Nümbrecht wird beispielsweise von drei Koordinatorinnen begleitet und durch sie erfahren wir auch meist direkt, ob und wie die Zeit im Kompetenzzentrum erlebt worden ist: Was fehlt, was war gut, was noch nicht etc.

Zugleich sind wir dabei, ein Qualitätsmanagement aufzubauen, ähnlich wie bei uns im Verband. Hierbei soll es möglich werden, sich schriftlich oder mündlich bei uns zu melden. Wir sammeln und bündeln die Anregungen und spiegeln diese dann dem multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrum zurück. Infolgedessen werden wir dann gemeinsam mit dem multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrum Lösungen suchen.

Erfreulicherweise ist gerade beim multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrum in Nümbrecht der Austausch mit dem Leiter Professor Peters intensiv, regelmäßig und ausführlich, so dass Lösungen oft schnell und unkompliziert gefunden werden können.

Mit dem Zentrum in Köln, der Psychosomatik, besteht ebenfalls schon ein langjähriges und gutes Miteinander und Vertrauensverhältnis. Auch hier treffen wir immer wieder auf offene Ohren und Augen, die unsere vorgetragenen Anliegen von Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung nicht nur aufnehmen, sondern auch aktiv selbst nach Lösungen suchen. Zum Beispiel ist hier gerade die Assistenz in einer psychosomatischen Klinik ein aktuelles Thema. Aber auch die conterganspezifische Einrichtung der Klinikräume beschäftigt uns immer wieder.

Das ist auch im Zentrum Aachen so. In Aachen liegt der Schwerpunkt bei der Vermittlung von Bedarfen bei der Kommunikation und in den Behandlungsräumen. Da dieses Zentrum dem Verband zuletzt als Patenzentrum zugeordnet wurde, haben wir unseren Schwerpunkt zunächst darauf gelegt, uns mit den Mitarbeitenden des multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrums zusammen zu setzen und auszutauschen, um eine einheitliche Wissensbasis zu schaffen.

Seitdem organisieren wir bis heute regelmäßig Veranstaltungen für Betroffene, die sich das Zentrum in Aachen für einige Stunden anschauen können und dort auch die Therapeuten und Ärzte kennen lernen können, die zu conterganrelevanten Themen auf Grundlage der von ihnen erstellten Leitfäden Vorträge halten. Hier können Fragen gestellt und Ängste abgebaut werden.

 

Wo sehen Sie ggf. Möglichkeiten der Verbesserung oder Intensivierung der Zusammenarbeit?

LV Niedersachen:
Sofern möglich, könnten wir uns eine Unterstützung seitens der Stiftung vorstellen, wenn es um die Veränderung bestehender Regeln bzw. Gesetze innerhalb der jeweiligen Bundesländer bzw. auch länderübergreifend geht. Im Zuwendungsrecht wäre es nützlich, wenn die Antragsverfahren für weitere Anschaffungen unbürokratischer und schneller werden. Auch könnten wir uns vorstellen, dass die Stiftung weitere behindertengerechte Patientenzimmer in Krankenhäusern mitfinanziert, die mit einem Kompetenzzentrum kooperieren.

 

LV Nordrhein-Westfalen: Ein Qualitätsmanagement ist heutzutage Standard und unser Ziel ist es, in allen drei multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren ein solches Qualitätsmanagement etablieren zu können. Dabei wollen wir keine aufwändige Form, sondern denken da eher an kurze Fragebögen mit der Bitte um Feedback zwecks Verbesserung der Angebote. Diese möchten wir mit den Zentren entwickeln.

Zudem wäre es wünschenswert, wenn bei Zusammenkünften der multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren untereinander mehr Zeit für die informelle Begegnung eingeplant werden könnte. Die Treffen zeichnen sich durch einen intensiven und informativen Austausch aus – eine stärkere Einbindung informeller Gespräche könnte diesen Mehrwert künftig noch ergänzen. Fakt ist, dass wir ein großes Interesse daran haben, dass das Wissen in die Breite geht, zu unseren Haus- und Fachärzten sowie Therapeuten. Auch der telemedizinische Ansatz sollte in Anbetracht unserer Mobilitätsbeeinträchtigungen weiter gestärkt werden.

 

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