Das Foto zeigt Stefanie Ritzmann bei einem Vortrag

„Das Leben ist ein einmaliges Geschenk“

Stefanie Ritzmann ist ein positiver Mensch. Ihrer Conterganschädigung trotzte sie bereits als Kind mit Mut und Widerstand. „Weglaufen? Geht nicht“ lautete der pragmatische Titel ihrer Autobiografie, die vor einigen Jahren erschien. Mit uns sprach die Karlsruherin über ihre Grundeinstellung, Ihren Lebenswillen und den „Funken“, den sie anderen mitgeben möchte.

 

Frau Ritzmann, Ihnen eilt der Ruf einer unverbesserlichen Optimistin voraus. Ist diese Einschätzung zutreffend oder übertrieben?

Oh, das ist mir gar nicht bewusst, dass ich so gesehen werde. Natürlich versuche ich erstmal, die Dinge optimistisch zu sehen. Das fällt mir nicht immer leicht, aber diese Einschätzung ist im Grunde völlig richtig.

 

Woher nehmen Sie diese positive Energie? Ist diese Eigenschaft angeboren oder ein Erfolg jahrelangen Trainings?

Vielleicht beides. Aufgrund meiner Lebenssituation, die ja nicht ganz leicht ist, habe ich eine gewisse Grundeinstellung entwickelt, mit der ich die Dinge bewältige. Es gibt immer einen Weg, manchmal muss man ihn nur finden. Man muss immer das Beste aus einer Situation machen. Wie in meinem Buch beschrieben, bleibt einem kaum eine andere Wahl.

 

Resignieren kommt für Sie also nicht in Frage?

Nein. Das ist absolut nicht mein Ding. Die Menschen sehen oftmals erst meine Behinderung, das prägt ihr Bild von mir. Wenn ich jedoch mit einem Lächeln durch die Straßen gehe, schauen sie in mein Lächeln. Ich denke, allein damit wird erkenntlich, mit welcher Einstellung ich durch das Leben gehe.

 

Im Gegensatz zu vielen anderen – auch contergangeschädigten Menschen – wurden Sie nicht von Ihren Eltern großgezogen.

Das ist richtig. Ich bin gleich ins Kinderheim gekommen, in ein Säuglingsheim. Ich habe heute zwar keinen Kontakt zu meiner Mutter. Aber ich weiß, dass sie sich während der Schwangerschaft sehr auf mich gefreut hat. Aber dann kam ich so missgebildet zur Welt. Es war also nicht so schön, wie sie sich das vorgestellt hat. Von da an war das Leben plötzlich anders für sie. Aber ich denke diese Vorfreude, die sie in sich hatte, die habe ich gespürt. Die ist auf mich übergesprungen. Davon bin ich überzeugt.

 

Haben Sie sich eine Art Ersatz für die fehlenden Eltern gesucht?

Unbewusst vielleicht. Aber ich habe immer das Glück gehabt, von Menschen umgeben zu sein, die mich mögen und so akzeptieren, wie ich bin. Mir wurde immer das Gefühl vermittelt, nicht allein zu sein. Dadurch entsteht auch ein Gefühl der Förderung.

 

Sind diese Erinnerungen an die Kindheit immer noch präsent oder haben Sie alles frühzeitig aufgeschrieben, um nichts zu vergessen?

Diese Erinnerungen sind noch sehr präsent. Ich denke, Kinder nehmen sehr bewusst wahr, was um sie herum passiert. Vielleicht habe ich aufgrund meiner Situation eine besonders sensible Wahrnehmung. Aufgeschrieben habe ich nichts, es war alles noch in meinem Kopf, bis es zum Buch kam.

 

Woher beziehen Sie Ihre Lebensenergie? Gibt es eine besondere Ressource?

Am Anfang waren es einfach die Menschen um mich herum, die positiv auf mich eingewirkt haben. Später kam mein Glaube dazu, aus dem ich meine Kraft schöpfe. Das klingt in meiner Situation vielleicht etwas seltsam, aber ich bin ein Geschenk Gottes. Als junges Mädchen habe ich das noch nicht so gesehen. Erst mit dem Älterwerden habe ich mich richtig gefunden und es angenommen. Ich habe einfach die Erfahrung gemacht, dass meine Stoßgebete erhört wurden.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Es sind einige Erlebnisse geschehen, wie im Buch beschrieben, die mich weiter nach vorne gebracht haben. Einmal bin ich mit meinem elektrischen Rollstuhl stehen geblieben. Da habe ich ein Stoßgebet mit dem Ruf nach einer helfenden Person losgeschickt. Gott hatte offenbar Humor und schickte mir gleich zwei. Vor mir kam eine junge Frau mit einem Kinderwagen und hinter mir ein junger Mann. Es stellte sich heraus, dass dieser ein ehemaliger Zivildienstleistender war, der sich mit E-Rollstühlen auskannte. Solche Ereignisse helfen mir, immer weiterzugehen.

 

Ihr Buch wurde als „Mutmacher-Buch“ bezeichnet.

Ich kriege sehr viele Rückmeldungen, gerade was das Mut machen angeht. Meine Kernbotschaft ist: Versuche das Leben so zu nehmen, wie du es bekommst. Du kriegst nur dieses eine Leben, es ist ein eimaliges Geschenk. Sicherlich gibt es Tage, die sind wirklich schlimm, ganz schlimm. Dann gestatte ich mir eben mal ein bis zwei Tage für mich zu sein. Danach tauche ich wieder auf. So gehe ich eigentlich damit um. Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich immer gut drauf bin und immer glücklich, das wäre gelogen.

Ich sehe mich aufgrund meiner Behinderung auch nicht als Opfer, sondern vielmehr als einen Menschen, der den anderen etwas mitteilen möchte. Es hat einen Sinn, warum ich so bin, wie ich bin. Ich bin nicht verbittert – wie vielleicht manch anderer.

 

Menschen mit Conterganschädigung leiden verstärkt an Spät- und Folgeschäden. Wie äußert sich das bei Ihnen?

Ja, das stimmt leider. Ich werde 64 Jahre alt und habe die Schädigung an beiden Armen und Beinen. Schmerzen habe ich auf jeden Fall. Deshalb bin ich auch bereits mit 40 Jahren in Rente gegangen. Ich habe immer am Schreibtisch gearbeitet, den ganzen Tag vor einem Bildschirm gesessen. Mit den Händen zu tippen fiel mir immer sehr schwer.

Ich habe keine Ellenbogen, kann mich daher nicht abstützen. Ich schrieb also die ganze Zeit, ohne das technisch richtig zu können. Die letzten zwei Jahre auf der Arbeit hatte ich dann sehr große Schmerzen. Da habe ich mir gedacht, ich gehe in Rente und „schone“ mich ein wenig, um die Einschränkung nicht noch größer werden zu lassen. Ich wollte den Zustand erhalten.

 

Aber Rente heißt für Sie nicht Ruhestand?

Das stimmt. Man muss das Gefühl haben, dass man trotzdem noch gebraucht wird. In derselben Zeit, als ich in Rente ging, wurde ein Behinderten-Beirat in der Stadt Karlsruhe gegründet. Da bin ich dazugestoßen und war zehn Jahre lang deren Vorsitzende. Ich bin allerdings jetzt genau so lange wieder raus.

 

Sie hätten das alles nicht während Ihres Arbeitslebens leisten können?

Nein, es ist leider sehr zeitintensiv. Es verlangte viel Arbeit, wir haben erst Erfahrungen sammeln müssen. Das ist ein Beirat für alle Menschen mit Behinderung, und ich war nicht nur für meinen Bereich zuständig. Wir haben uns für Inklusion eingesetzt. Da musste ich über den Tellerrand schauen, mich mit der Politik auseinandersetzen, Pressekonferenzen halten, Sitzungen leiten, viel Post erledigen und so weiter. Das war alles neu für mich. Also habe ich mich da reingestürzt und sehr viel gelernt.

 

Warum haben Sie dort aufgehört?

Weil ich der Meinung bin, dass frischer Wind einem Verein immer guttut. Ich bin nun mal ersetzbar, und das muss jedem klar sein. Und ich wollte nicht abwarten, bis andere sagen: Wann geht denn die Alte jetzt mal? Stattdessen höre ich nämlich: „Oh schade, dass sie gegangen sind“. Das höre ich viel lieber.

 

Womit beschäftigen Sie sich heute?

Im Moment geht viel in meinem Kopf rum, aufgrund des Älterwerdens. So wie jetzt bleibt es ja nicht. Momentan bin ich hier in Karlsruhe auf der Suche nach einer Möglichkeit für betreutes Wohnen, die mich anspricht. Es tut sich einiges in dem Bereich. Ich möchte aber so lange wie möglich hier in meinem Umfeld bleiben.

Sich im Wohnbereich mit völlig neuen Menschen zusammenzutun, ist auch denkbar, muss dann aber wirklich passen. Es ist ja mit Mitte 60 weit schwieriger als mit 20, wenn man seine erste WG gründet. Und Pflegeheim? Ich bin in einem Heim groß geworden. Ich weiß wie das ist, da will ich nicht unbedingt wieder hin.

Aber das ist im Moment ein Thema, das ich gerne und oft anspreche.

 

Ihr Schlusswort?

Ich hoffe, dass ich weiterhin den positiven Eindruck, den man von mir hat, beibehalte und anderen Menschen ein bisschen einen „Funken“ schenken kann.


Stefanie Ritzmanns autobiografisches Buch „Weglaufen? Geht nicht!“ ist 2019 bei Klöpfer, Narr erschienen und in zwischen verhgriffen. Erhältlich ist es noch in modernen Atiquariaten, über das Verzeichnis antiquarische Bücher vzab.com oder Second Hand Buchverkäufe. 

 

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