Das Bild zeigt einen Zeitungsbeleg aus der Bildzeitung vom 11.04.1962

„Das Thema Contergan ist in meiner Generation nahezu unbekannt“

Julia Voswinckel (24) hat eine Bachelorarbeit über den Medizinskandal geschrieben. Würde man die Menschen auf Deutschlands Straßen nach dem Stichwort „Contergan“ befragen, gäbe es häufiger ein Achselzucken, speziell bei den Jüngeren. Julia Voswinckel ist hier eine Ausnahme. In ihrer Arbeit an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz zum Thema Conterganskandal geht es um den gesellschaftlichen Umgang mit Medien, Medikamenten – und die Macht der Bilder.

 

 

Frau Voswinckel, Sie haben sich für den Conterganskandal als Thema ihrer Bachelorarbeit entschieden. Wie kamen Sie auf das Thema – oder kam es eher zu Ihnen?

Ein bisschen von beidem und auch ein wenig per Zufall. Im Vorsemester hatte ich ein Seminar zum Thema Fotografie bei meinem späteren Betreuer besucht. Ich wollte den Bereich Fotografie einbinden und bin in den Vorgesprächen und per Internetrecherche dann auf Bilder von Menschen mit Conterganschädigung gestoßen. Die Bilder und deren Rezeption spielen eine wichtige Rolle in dem Skandal. Ich habe dabei festgestellt, dass es große zeitliche Lücken in der Darstellung gibt. Früher viel, dann Jahrzehnte lang faktisch nichts. Die neuesten Bilder stammten von dem Fotografen Carsten Büll.

 

Sie waren damals 22. In ihrer Generation ist das Thema „Contergan“ kaum präsent. Warum haben Sie sich trotzdem so intensiv und wissenschaftlich damit auseinandergesetzt? 

Das stimmt. Ich habe festgestellt, dass nur wenige mit dem Begriff und der Thematik Contergan etwas anfangen können. Vor allem Gleichaltrige und Mitstudierende wussten quasi nichts darüber. Am Ende war also auch das Unwissen meiner Generation ein Grund, die Arbeit zu schreiben. Ich selbst wurde immer neugieriger, warum das so ist. Je mehr ich erfuhr, desto klarer wurde mir die historische Relevanz. Und ich wollte wissen, wie die Menschen damals den Conterganskandal erlebt und wahrgenommen haben. Was ist damals gewesen, wie wurde es gesellschaftlich verhandelt?

 

Dazu mussten Sie in die 50er und vor allem 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eintauchen. Können Sie skizzieren, über welche Art von Gesellschaft der Skandal damals hereinbrach?

Nun ja, selbst eine Skizze wäre schon sehr komplex. Schon allein, weil es so viele gesellschaftliche Aspekte zu beachten gibt.

In jedem Fall war es eine Gesellschaft, in der die Ärzteschaft ein hohes Ansehen und auch eine Art Hoheitsanspruch hatte. Der Massenkonsum setzte ein, auch Medikamente wurden in Massen breit und meist unreflektiert konsumiert. Eine Rezeptpflicht oder Arzneimittelgesetze gab es noch nicht, die Informationen über die Mittel holte man sich auch nur bedingt von medizinischer Seite, sondern eher über Mitmenschen. Behinderungen gab es schon, aber nur am Rande der Gesellschaft. Im gesellschaftlichen Diskurs spielten sie keine Rolle. Der heute alltägliche Austausch zwischen der Ärzteschaft, wissenschaftlichen Experten sowie der Politik und der Bevölkerung fand noch nicht statt. Sie alle lebten im Vergleich zu später recht abgeschottet und machten „ihr Ding“.

 

Wissensvermittlung und Informationsaustausch führen uns zur Rolle der Medien.

Die Rolle der Medien ist sehr spannend. Im Zuge des Conterganskandals wurden sie erstmalig zu einem treibenden Akteur im gesellschaftlichen Diskurs. Sie betrieben eben nicht nur Informationsweitergabe, sondern stellten Fragen, wollten Hintergründe beleuchten, kommentieren, bewerten. Das gilt auch für die Begriffsbildung. So stammt der Terminus „Contergankinder“ tatsächlich von der Bildzeitung und wurde prägend für die gesamte Berichterstattung. Vielleicht erstmals nach dem Krieg traten die Medien meinungsbildend und machtvoll auf. Durch das Nachfragen und das gesellschaftliche Interesse entstand zum ersten Mal Druck auf die Protagonisten, auf Politik und Wissenschaft.

Man kann sagen, dass die Medien sich in den 60ern eine neue Rolle in der Bundesrepublik erarbeitet haben. Sicherlich nicht nur allein durch den Conterganskandal, aber durch ihn eben sehr maßgeblich. Die Rolle der Medien wurde gewichtiger und größer.    

 

Die andere Seite: Wie war die gesellschaftliche Wahrnehmung, wie ist die Gesellschaft mit dem Skandal umgegangen?

Das kann man als Wechselspiel beschreiben. Durch die medialen Berichte wurde der Conterganskandal zunächst mal sichtbar: Bilder von tausenden von Kindern, die aufgrund eines Medikamentes mit schweren Schädigungen an Gliedmaßen und inneren Organen zur Welt kamen. Das hat zu einer großen Emotionalisierung geführt, denn es betraf viele Menschen, jeder konnte direkt oder indirekt Opfer werden.

Denn jeder und jede hätte Contergan einnehmen können. Und Millionen hatten es genommen. Die Gesellschaft war geschockt, betroffen, hochgeschreckt. Vieles – Politik, Arzneimittel, Unternehmen etc. – wurden im Zuge des Conterganskandals erstmals und tiefgreifend hinterfragt. Der generell herrschende Fortschrittsglaube wurde abgelöst von einer Grundskepsis gegenüber dem Glauben an uneingeschränkte Machbarkeit. Der Skandal traf auf eine Gesellschaft, die sich immer mehr von autoritären Strukturen emanzipierte.

 

Es gab also in vielerlei Hinsicht eine Zäsur.

Das Interessante ist eben, dass das Thema in den 1960er Jahren eine fast durchgehende Aufmerksamkeit hatte. Die Bevölkerung wollte sich beteiligen, forderte Information und Aufklärung ein. Niemand der Beteiligten konnte sich mehr wegducken. Weder Grünenthal noch die Politik. Bis zum Prozess wurde detailliert berichtet. Und dann hörte es relativ plötzlich auf. Das Interesse erlahmte mehr oder weniger seit den frühen 70ern. Das Thema ist weitgehend aus dem Diskurs verschwunden. Bis eben vor 12, 13 Jahren. Bis zum Contergan-Film und dem Bildband von Carsten Büll.

(Hier finden Sie Interviews mit dem Filmproduzenten Michael Souvignier und dem Fotografen Carsten Büll.)

 

Welche Veränderung im Zuge des Conterganskandals war aus Ihrer Sicht die wichtigste und nachhaltigste?

Geblieben ist sicherlich die Kritikfähigkeit gegenüber den Machthabenden. Der Conterganskandal hat die damalige Generation für vieles, was ich oben genannt habe, sensibilisiert. Dass wir Arzneimittelgesetze haben, hat hier seinen Anfang. Ich denke jedoch nicht, dass wir einen singulären Punkt herauspicken können, da vieles bis heute nachwirkt, was damals seinen Anfang genommen hat. Der Umgang mit Behinderung in der Gesellschaft etwa oder die Skepsis gegenüber politischen und wirtschaftlichen Autoritäten.

Der Kontext ist heute aber ein anderer. So sind die gleichen oder ähnliche Themen zwar weiterhin relevant und werden auch diskutiert – nehmen wir nur aktuell die Corona-Impfungen. Aber solche Themen werden heute anders diskutiert. Nicht zuletzt aufgrund einer veränderten Gesellschaft und einer anderen Medienlandschaft.