Das Bild zeigt Carsten Büll

„Die eigentliche Herausforderung beim Fotografieren sind die Menschen“

Carsten Büll ist Fotograf aus Leidenschaft. Seine Fähigkeiten hat sich der studierte Sozialökonom über viele Jahre in professionellen Kursen und durch Workshops angeeignet. In den meisten seiner Arbeiten spielen Menschen die tragende Rolle. Vor einigen Jahren hat er einen Bildband über Menschen mit Conterganschädigung herausgebracht. Wir haben mit dem Heidelberger über seine Arbeit, seine Erfahrungen mit dem Thema Contergan und seinen speziellen Blick durch die Kamera gesprochen.

 

Herr Büll, als professioneller Fotograf sind neben Architektur und Industrie hauptsächlich Menschen Ihr Thema. Was reizt Sie daran?

Das stimmt. Menschen spielen eine zentrale Rolle in meinen Fotos. Zur Architekturfotografie kam ich erst im Laufe der Zeit. Man kann sagen, dass es in meinen Fotoarbeiten viel um Menschen und ihre jeweilige Umgebung geht. Dazu gehören auch Projekte, die mich länger begleiten. So kam etwa nach dem Contergan-Projekt die langfristig angelegte Bildserie „Bahnstadt“ über eine Neubausiedlung in Heidelberg zustande. Oder die Serie „Heidelberger Menschen“. 

 

Warten Sie auf Aufträge oder suchen Sie sich selbst die Themen?

Beides. Das Contergan-Projekt war ein selbst gewähltes Thema, bei dem ich als Autor alle Freiheiten in Bezug auf Inhalt und Gestaltung hatte. Die „Heidelberger Menschen“, die in dem gleichen Verlag erschienen, waren ein Vorschlag des Verlags mit Vorgaben. Bei Auftragsarbeiten sind diese mal mehr und mal weniger strikt. Für das Projekt „Ein Tag Deutschland“ etwa wurden wir Fotografen vom Fotografenverband FREELENS e.V. aufgerufen, am selben Tag mit selbst gewählten Themen einen persönlichen Blick auf unser Land zu werfen.

 

Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?

Ich habe relativ spät angefangen professionell zu fotografieren. Es fing als Hobby mit Urlaubsbildern und Landschaften an. Während meines Studiums der Volkswirtschaft und Sozialökonomie war ich in Tansania, später in Südafrika. Hier merkte ich irgendwann: Die eigentliche Herausforderung für mich beim Fotografieren sind die Menschen. Sie agieren und reagieren auf ihre Umwelt, auf mich und die Kamera. Das ist eine echte Herausforderung, hier eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen und den entscheidenden Moment eines interessanten Ausdrucks zu finden und festzuhalten.

 

Was war der Auslöser, sich fotografisch mit Menschen mit Conterganschädigung auseinanderzusetzen?

Ich stand damals in Kontakt mit einem Professor für Fotografie in Hannover, den ich über Workshops kannte. Er brachte mich auf das Thema Contergan, das weitgehend in Vergessenheit geraten war. Das interessierte mich sofort und bei meinen Recherchen stieß ich schnell auf die Betroffenen, die Menschen mit Conterganschädigung, welche einst als „Contergan-Kinder“ in den Medien Beachtung fanden, die aber längst keine Kinder mehr waren. Die Frage war: Was machen sie heute? Wie geht es ihnen? Unter anderem über den Bundesverband bin ich dann in Kontakt mit Betroffenen getreten. Unser gemeinsames Interesse war, dem Thema wieder eine Relevanz zu geben.

 

Wie war es, mit diesen Menschen als Fotograf zu arbeiten?

Die Fotos haben Reportage-Charakter. Es ging also nicht um inszenierte Portraits, sondern um die Darstellung von Alltag im dokumentarischen Sinne. Damit das gelingt, muss man zuerst Vertrauen aufbauen, um dann beim Fotografieren quasi unsichtbar zu werden. Gleichzeitig muss man Distanz wahren und den eigenen Blick und die eigene Position finden.

Einer der fünf Protagonisten des Contergan-Buches etwa hat mich so sehr in alles eingebunden und so viel erzählt, dass die nötige Distanz schwierig aufrecht zu halten war. Ich habe diese Menschen also sehr intensiv und gut kennengelernt. Das will man nicht missen. Es ist also immer eine Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe.

 

Ist das Thema Contergan oder Menschen mit Behinderung eines, was Sie generell umtreibt?

Was mich generell umtreibt, ist das Thema Gerechtigkeit und der Mensch an sich. Wenn ich Menschen fotografiere – ob nun mit oder ohne Behinderung – dann geht es mir um die Person, um die Begegnung, die ich in konkreten Situationen erfassen möchte, wie auch immer diese sich dann entwickeln. Bei den Contergan-Bildern ging es mir nicht darum, die Schädigungen darzustellen. Mich interessierten die Persönlichkeiten, die mit den Folgen ihrer Schädigungen durch den Alltag gehen.

Während der Arbeit an diesem Projekt und auch beim Zeigen der Fotos habe ich festgestellt, dass es immer noch Befangenheiten gegenüber Menschen mit Handicap gibt. Ich wurde zum Beispiel gefragt, warum ich mich dem aussetze, das sei doch sicher alles nur schwer zu ertragen. Es gab aber auch den Vorwurf des Voyeurismus oder den der falschen Betroffenheit. Meine Feststellung war: Die Betroffenen selbst gehen damit viel lockerer um. Es kam auf der Suche nach Protagonisten für das Buch auch zur Ablehnung eines Prominenten mit Conterganschädigung. Er legte mir in einem ausführlichen Gespräch seine Befürchtung einer Zementierung der Opferrolle durch ein Wiederaufkochen der Thematik dar und wollte damit auf keinem Fall in Verbindung gebracht werden. Die Geschädigten begleitet die Gratwanderung zwischen Schicksal und Autonomie fortwährend.

 

Diese Bilder sind 2007 erstmals veröffentlicht worden. Wie wurde aus dem Projekt ein Fotoband?

Es war von Anfang an als Buchprojekt angelegt, auch wenn ich nicht wusste, ob ich einen Verleger finden würde. Wenn man sich in ein Thema einarbeitet, von dem man meint, es habe eine Relevanz für unsere Gesellschaft, dann sucht man auch die Öffentlichkeit. Der Wellhöfer Verlag in Mannheim wollte schließlich dem Thema Gewicht geben und eine Plattform bieten. Das war nicht selbstverständlich, denn es war ja sehr speziell und hatte eine sehr kleine Zielgruppe. Mein Name war auch nicht das große kommerzielle Zugpferd. Es konnte also nicht darum gehen, in erster Linie Geld damit zu verdienen.

 

Welche Reaktionen gab es auf die Bilder und den Bildband? 

Aus dem Kreis der Betroffenen selbst kam viel Zuspruch und auch Dankbarkeit. Der Bundesverband war glücklich, dass jemand das Thema Contergan aufgreift und wieder publik macht. Auch die Medien zeigten Interesse: Der Stern hat eine Story gebracht, das Projekt wurde im Fernsehen und Radio mit ergänzenden Interviews mit mir vorgestellt. Weiterhin gab es mehrere Ausstellungen. Und erst vor etwa zwei Jahren kam eine Studentin der Kulturanthropologie wegen ihrer Bachelorarbeit auf mich zu. Es ging darin um die Rezeption meiner Bilder als Teil des gesellschaftlichen Umgangs mit Contergan.

 

Interessant ist, dass der Film „Eine einzige Tablette“ nahezu zeitgleich ins Fernsehen kam. Die Menschen mit Conterganschädigung waren nach langer Zeit plötzlich wieder Thema.

Das lag daran, dass sich der Fall Contergan zum 50. Mal jährte. Es gab da keinerlei Absprache zwischen dem Filmemacher und mir. Was mich wirklich berührte, war eine mir zugetragene Information, dass mein Buch wahrscheinlich dazu beigetragen hat, dass es eine neue Schadensersatzzahlung von Grünenthal an die Betroffenen gab. Ein Sohn der Eigentümerfamilie hatte sich dafür stark gemacht, nachdem er sich offenbar mit meinem Buch auseinandergesetzt hatte.

 

         

Der Bildband „Contergan“ ist nach wie vor im Handel erhältlich. Durch eine Kooperation mit Carsten Büll erscheinen gelegentlich seine Bilder auch hier im CIP.  

Einen Überblick über die Arbeit von Carsten Büll finden Sie unter www.carstenbuell.de