Das Bild zeigt Prof. Dr. Simone Danz in einem Treppenhaus

"Die Normalität ist ja, dass wir nur zeitweise nicht behindert sind."

Simone Danz ist Professorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Ihr Lebensweg wirkt stringent und ist dennoch voller Brüche. Glück und Mut sind wichtige Zutaten, dass ein Lebensweg gelingen kann, sagt sie. Als Conterganbetroffene und Wissenschaftlerin hat sie einen besonderen Blick auf Begriffe wie „Behinderung“ und „Inklusion“. Wir müssen „irritationsfähiger“ werden, so ihr Aufruf. Wie wichtig Begriffe sind, zeigt auch ihre Rolle als „Enthinderungsbeauftragte“.

 

Frau Dr. Danz, Sie waren lange in Indien, haben im Gartenbau und als Erzieherin gearbeitet und sind nun Professorin – wie könnte man Ihren Werdegang in wenigen Worten beschreiben?

Das ist sicher nicht einfach (lacht). Meine Biografie weist ein wunderbares Muster auf, aber da ist nichts von vornerein so geplant gewesen. Ich habe nach dem Abitur zunächst entschieden zu reisen, mal raus zu kommen, vielleicht eine Weltreise zu machen. Dann sollte es Indonesien werden, am Ende bin ich nach Indien gegangen. Dort habe ich drei Jahre lang viel erlebt und im Nachhinein glaube ich, es war genau richtig, dort gewesen zu sein. Erstens war ich ziemlich weit weg von zu Hause und habe so das Problem der Überbehütung umgangen. Und das zweite: in Indien ist es normal, eine sichtbare Behinderung zu haben.

 

Sie wurden dort mit Ihrer Conterganschädigung ganz anders wahrgenommen?

Ja, ich musste mich zwar erst daran gewöhnen, dass lauter Leute um mich rumstehen und fragen: Woher kommt das, tut das weh? Wenn das geklärt ist, gehen alle wieder weg. Eine ganz unbefangene Neugier, die ich in Deutschland so noch nicht gesehen hatte. Hier erntet man komische Blicke oder die Leute schauen betreten weg. In Indien wird es einfach akzeptiert. Man fragt: „Kann ich dir helfen, Schwester?“ und gut ist. Es gibt diese mildtätige Betroffenheit nicht. Kein schlechtes Gewissen, dass ich ein schlechter Mensch bin, wenn ich nicht helfe bzw. der gegenteilige Effekt, der sagt: behinderte Menschen wollen ja allein klarkommen. In Deutschland ist manches recht übergriffig. Ich habe aber in Indien auch mit Deutschen zusammengelebt. Diese Leute haben mich – zum ersten Mal in meinem Leben – ernst genommen und nicht übertrieben schonend behandelt.

 

Wieder zuhause wollten Sie mit Ihren Händen arbeiten …

Ja. Ich wollte nicht nur was mit dem Kopf machen und studieren, sondern zeigen, dass ich auch mit kurzen Armen richtig arbeiten kann. Ich habe dann in Hannover eine Gartenbaulehre in einer Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau gemacht. Es tat gut, mit einem Abschlusszeugnis da zu stehen. Doch ich wollte in dem Bereich dann doch nicht einfach weiterarbeiten.

 

Irgendwann kam dann doch die Wissenschaft in Ihr Leben?

Ja, das hat aber noch eine Weile gedauert. Ich hatte ein Faible für Pädagogik entwickelt. So habe ich zunächst eine Umschulung als Arbeitserzieherin und -therapeutin gemacht und dann in einer Ausbildungsgärtnerei so genannte „milieugeschädigte Jugendliche“ durch die Fachausbildung begleitet. Als ich auf die Idee kam, zu studieren, war ich schon 35. Auch das kam aus dem Drang der Veränderung heraus, weil meine Kolleginnen alle Studierte waren und ich die einzige Erzieherin war. Da gab es oft fachliche Konflikte. Also habe ich mir eine Stelle als Arbeitserzieherin in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gesucht. So konnte ich neben meinen Abend- und Nachtdiensten parallel studieren.

 

Aber vom Studium zur Professur ist doch meistens ein langer Weg?

Ich habe dann 2015 nach 14 Jahren, in denen ich immer parallel voll gearbeitet habe, promoviert.  Interessant ist, dass wieder der Zufall im Spiel war. Ich hatte parallel zur Berufstätigkeit immer Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, unter anderem in Berlin und Frankfurt, aber eben auch in Ludwigsburg an der evangelischen Hochschule. Von dort kam dann 2016 die Aufforderung, mich für die Professur zu bewerben.

 

Zehren Sie als Akademikerin von den früheren, eher praxis-orientierten Lebensstationen? 

Ich glaube, dass ich mir als Wissenschaftlerin ganz gut dieses Bodenständige bewahrt habe - etwa durch das Gärtnern und weil ich lange Zeit mit Nicht-Akademikern und auch schwierigen, sozial eher abgehängten Leuten zu tun hatte. Verständigung ist mir wichtig, auch über unsichtbare Grenzen hinweg.

 

Abgehängte, Ausgeschlossene… Sie sprechen davon, dass so genannte Behinderungen nicht immer sichtbar sind.

In meinem ersten Buch „Behinderung – ein Begriff voller Hindernisse“ zeige ich, dass sich der Begriff Behinderung ursprünglich auf dingliche Hindernisse bezog, etwa der Verkehr oder ein Flusslauf war behindert. Das wurde dann auf Menschen angewandt. Man dachte, prima jetzt haben wir einen ganz neutralen Begriff. Aber dabei blieb es nicht lange. Es hat mich sehr interessiert, wie ein im Grunde neutrales Wort innerhalb von kurzer Zeit zum Schimpfwort wird. Behinderung weist auf menschliche Abhängigkeit und Hilfebedürftigkeit hin und wird daher eher als ein nicht erstrebenswerter Zustand verstanden.

Etwas sieht abweichend aus und ruft daher eine Abwehr hervor, etwas, das man nicht haben will. So bin ich über Denker wie [den französischen Psychoanalytiker, d. Red.] Jaques Lacan auf die dekonstruktivistische Sichtweise gekommen. Diese Sichtweise besagt, dass wir mit unseren Begriffen quasi huckepack immer noch eine symbolische Bedeutung mitliefern. Es ist eine kollektive Dynamik, die solche Begriffe bestimmt und auch verändert.

 

Eine Art Sprach-Evolution? Ähnlich wie beim Wort Krüppel…

Ja, genau. So ein Prozess ist natürlich immer viel komplexer, als dass man ihn so einfach darstellen könnte. Die Bezeichnung „Behinderte“ hat nach dem Krieg den Begriff „Krüppel“ abgelöst. Das Wort Krüppel, ehedem auch ein eher neutraler Begriff aus der Botanik, hatte seine Renaissance in den 80er Jahren, als die Selbsthilfeleute eine „Krüppel-Bewegung“ ausriefen und voller Stolz sagten, sie seien Krüppel. Das zeigt: es gibt immer verschiedene Strömungen, auch im Bereich der Aneignung von Begriffen, die mal anders intendiert waren. Diese Mechanismen aufzuspüren, war auch das Thema meiner Dissertation. Wo finden sich also Abwehrstrukturen im Subjekt, im Individuum und wie verläuft der Weg entwicklungspsychologisch? Und: wo findet sich das Gleiche im kollektiven Verständnis? Wie gestalten sich dadurch die gemeinsamen Vorstellungen von Erstrebenswertem und Normalität.

Wir sind alle eingebunden in kollektive Normalitätsvorstellungen. Eigentlich kann niemand diesen voll entsprechen, aber Behinderte entsprechen ihnen schon mal gar nicht. Kollektive Vorstellungen und deren Abweichung prägen unser Verhalten. Die Nicht-Behinderten gehen daher mit gewissen Normalitätsanforderungen auf behinderte Menschen um oder vermeiden den Kontakt.

 

Damit sind wir dann schnell beim Thema Inklusion?

Es muss darum gehen, dass niemand von Teilhabe ausgeschlossen wird. Nimmt man Ziel Nummer vier der Sustainable Developement Goals der Vereinten Nationen*, geht es daher eher um die Vermeidung von Exklusion durch unterschiedliche Risiken wie Behinderung, Armut, Alter, Geschlecht etc., also um das Vermeiden von Ausschlusskriterien, wie eben Behinderung jedweder Art. Wir müssen also darauf achten, behinderte Menschen so zu behandeln, wie sie es brauchen und nicht, wie wir denken, dass sie es vermeintlich brauchen oder sollten. Ich bin das beste Beispiel: Ich könnte mit so langen Armen gar nichts anfangen. Also ist es Unsinn, mir etwa eine Prothese anzufertigen. Ich frage mich eher, wie man mit so langen Armen schreiben oder Fahrrad fahren kann.

[*Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung sind politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen, welche weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. Anm. d. R.]

 

Sie würden den Begriff der Inklusion also am liebsten nicht mehr verwenden?

Ich würde schon erklären wollen, was ich darunter verstehe. Inklusion, Integration diese Begriffe sind allerdings gerade schon wieder dabei, „verbrannt“ zu werden. Die Frage ist tatsächlich: Wie kann man in einem System von Leistungs- und Selektionsorientierung wie dem unseren ernsthaft glauben, man könne so was wie Inklusion erfolgreich realisieren, ohne an der Basis und am Selbstverständnis der Gesellschaft etwas zu ändern?! Daher sage ich, dass Inklusion immer bedeutet, Exklusionsgefahren zu minimieren. Es geht nicht darum, dass das Individuum sich anpassen muss. Es geht um die Anpassungsfähigkeit des aufnehmenden Systems – hier muss sich dringend was ändern.

 

Passend dazu sind Sie an Ihrer Hochschule auch „Enthinderungsbeauftragte“. Was bedeutet das?

Das war ein gewisser Kampf, diese Bezeichnung an behördlicher Stelle durchzusetzen. Mein Vorgänger im Amt, Professor Jo Jerg, hat das geschafft. Schauen wir uns den Begriff aber mal an, so trifft er doch genau ins Schwarze: Es braucht Menschen, die dafür sorgen, dass eben „Ent-Hinderung“ stattfindet. Ich verfasse gerade auch ein Lehrbuch dazu. Der Begriff ist also raus in der Welt und zieht seine Kreise.

 

Sie sehen das Thema Behinderung in einem größeren Zusammenhang und sagen: Behinderung kann jede und jeden betreffen und irgendwo sind wir alle in unseren Fähigkeiten begrenzt?

Wir alle müssen Grenzen akzeptieren, unsere Verletzlichkeit und unser Ausgeliefertsein annehmen. Die gesamte Menschheit ist letztlich begrenzt. Wenn wir uns unsere Normalitätskonstruktionen anschauen, die Leistungs- und Selektionsordnungen, dann sehen wir, dass „höher-schneller-weiter“ augenscheinlich langsam ausgedient hat. Die Grenzen des Wachstums sind real und die Verletzlichkeit der Ökosysteme wird deutlich. Von daher würde ich schon sagen, dass es nur darum gehen kann, anzuerkennen dass wir alle begrenzt – sprich: behindert sind – und dringend lernen müssen, allgemein Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu akzeptieren und anzuerkennen.

 

Lapidar gesagt: Nobody’s perfect

Das sowieso. Aber auch ganz konkret können alle von heute auf morgen zu Behinderten werden. Sei es durch Alter, Unfall oder Krankheit. Die Realität ist ja, dass wir nur zeitweise nicht behindert sind. Und jede „Behinderung“ durchbricht wiederum die Normerwartung innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik und kann nicht mehr passen. Wir alle sind abhängig. Das müssen wir einsehen. Dann würde die vorübergehende Fantasie wegfallen, wir seien unverletzlich. Da brauchen wir auch andere Anerkennungsprozesse. Es müssen andere Dinge chic werden.

 

Wie wollen wir das erreichen? Müssen wir nicht unser komplettes Bewusstsein ändern?

Das ist ja schon mehrmals in der Menschheitsgeschichte geschehen, dass das kollektive Bewusstsein Sprünge macht. Es gibt viele Ansatzpunkte. In der Pädagogik etwa, ich nenne es „360-Grad Diagnostik“, die den Menschen in seinem gesamten Umfeld sieht. Das System Schule muss diagnostiziert werden. Die Peers, also die Mitschülerinnen und Mitschüler, müssen als Ressource wichtiger werden. Man muss drauf abzielen, wer kann was, wer kann es den Schwächeren erklären? Und: Schwach zu sein, darf nicht mehr belächelt werden. Wir müssen auch wegkommen von den ganzen Fachkräften, die jemanden nur beigestellt werden und am Ende alles nur schlimmer machen und die Verbesonderung noch mehr manifestieren. Man muss fragen, was die Betroffenen wirklich brauchen und ein solidarisches Gespür dafür entwickeln, um sich nicht zu schnell scheinbar zu sicher zu sein, was sie haben sollten. Ich sage immer mit Wolfgang Klafki, einem bekannten deutschen Erziehungswissenschaftler: Selbstbestimmung und Mitbestimmung darf nur zusammen mit Solidaritätsfähigkeit erlangt werden.

 

 

Foto: Verena Müller