„Die Vergangenheit prägt, aber fesselt uns nicht!“

Die Conterganstiftung wurde am 31. Oktober 1972 vom Deutschen Bundestag als „Hilfswerk für behinderte Kinder" ins Leben gerufen. In Kürze begeht sie also ihr 50-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses besonderen Termins fand am 3. September in Köln, dem Sitz der Stiftung, ein „Fest der Begegnung“ statt. Geladen waren Menschen mit Conterganschädigung, Interessenverbände, medizinische Kompetenz- und Fachkräfte sowie politische Vertreterinnen und Vertreter. Für beste musikalische Stimmung sorgte die Band „Bläck Fööss“. 

„Für Viele von uns ist es ein Fest der Erstbegegnung“, sagte Matthias Berg in seiner Anmoderation. Damit traf der Esslinger, selbst Contergangeschädigter, ins Schwarze: Ein Teil der gut 350 Menschen mit Conterganschädigung, die der Einladung ins Dorint Hotel nach Köln-Deutz gefolgt waren, trafen zum ersten Mal in ihrem Leben aufeinander. Seit rund 60 Jahren leben sie mit den Folgen des größten deutschen Arzneimittelskandals. Das Treffen in Köln bestätigte für viele das wichtige Gefühl, nicht allein zu sein. Vergleiche mit einer Art Klassentreffen kamen auf. Eine große Klasse, angereist aus vielen Teilen Deutschlands.

 

Gedenken ist wichtig, feiern ist erlaubt

Stiftungsvorstand Dieter Hackler eröffnete mit einem Grußwort den Nachmittag und stellte die Frage: „Kann man 50 Jahre Conterganstiftung überhaupt mit einem Fest begehen oder sogar miteinander feiern?“ Er betonte das große Leid der Betroffenen und ihrer Familien. Die Namen der Verstorbenen des Jahres wurden verlesen, mit einer Gedenkminute wurde aller Verstorbenen gedacht. „Ihre Verletzungen kann die Conterganstiftung nicht aufheben“ so Hackler. Sie könne nur Ausdruck dafür sein, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in der Verantwortung sehe. „Das war bei der Stiftungsgründung der Fall und das gilt bis heute. Dass es zwischendurch große Versäumnisse gab und auch heute noch geben mag, beklagen wir mit Ihnen.“

Die große Leistung der Menschen mit Conterganschädigung und deren Familien, die viele Verbesserungen auch im Umgang der Gesellschaft mit Behinderung gebracht hat, könne derweil nicht hoch genug bewertet werden. Dem gegenüber drückte Hackler Anerkennung und Dank aus: „Sie haben die Selbsthilfestrukturen in Deutschland aufgebaut, von denen das ganze Land bis heute profitiert.“ Alle Betroffenen und deren Familien seien einen weiten, beschwerlichen Weg gegangen. „Sie alle sind am Leben. Sie sind heute hier. Dafür bin ich, ist die Conterganstiftung, Ihnen allen sehr dankbar!“

Die Stiftung habe nicht mit diesem großen Zuspruch gerechnet. Zwar seien alle Menschen mit Conterganschädigung eingeladen worden; gerechnet hatte man jedoch nicht mit dieser Resonanz. „Wir sehen die hohe Teilnehmendenzahl auch als Zeichen des gewachsenen Vertrauens in die Conterganstiftung“, hatte der Stiftungsvorstand bereits im Vorfeld gesagt. (Das Sommerinterview mit Dieter Hackler lesen Sie hier). 

Abschließend betonte Hackler die wichtige Arbeit der Verbände und den Willen zur Zusammenarbeit seitens der Stiftung. „Sie sind die Spieler, die Stiftung nur der Mitspieler“. Dabei stehe der Blick auf das Leben jedes einzelnen Menschen im Vordergrund. Er sehe mit Stolz und Freude, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen Betroffenen, Verbänden und Stiftung in den vergangenen Jahren gewachsen sei. Auf diesem Weg wolle man bleiben. Das Grußwort von Dieter Hackler wurde mit Applaus und Zustimmung goutiert. Die komplette Rede finden Sie hier.

Bürgermeister Dr. Ralf Heinen sprach als Vertreter von Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Köln – als der Heimat vieler Menschen mit Conterganschädigung. Von Beginn an sei die Stadt offen und helfend mit dem Thema umgegangen. Nicht zuletzt sei Köln mit Überzeugung seit 50 Jahren Stiftungssitz. Auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, schickte Grüße in die Veranstaltung. Ihr Grußwort können Sie hier nachlesen.

 

Diskussion erinnert an „Kampf David gegen Goliath“

Eine Podiumsdiskussion bot Gelegenheit zum Austausch. Neben Moderator Matthias Berg hatten auf dem Podium Vorstandsmitglied Margit Hudelmaier, der Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigter e.V., Udo Herterich und der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutschland e.V., Christian Stürmer, Platz genommen. Sie würdigten in Erinnerung an ihre Kindheit die Leistung vieler engagierter Eltern. Christian Stürmer hob erneut die mangelnde Bereitschaft der damaligen Regierung hervor, hinlänglich Verantwortung zu übernehmen. Der Staat habe sich sehr einseitig auf die Seite des Pharmaunternehmens geschlagen. Dass es Einschüchterungsversuche seitens der Firma Grünenthal gegeben habe, sei hinreichend belegt - ein Kampf mit ungleichem Kräfteverhältnis. Margit Hudelmaier wies darauf hin, dass der „Kampf David gegen Goliath“ gar nicht hätte gewonnen werden können. Udo Herterich hob die enorme Kraftanstrengung der Eltern hervor und sagte: „Sie wurden auch alleine gelassen. Zehn Jahre zum Prozess haben Zermürbung und Überforderung bedeutet.“

Dennoch war sich das Quartett einig darüber, dass man nach langem Kampf heute vor allem finanziell gut dastünde. Die Stiftung stehe trotz Verankerung im Staatsapparat auf der Seite der Geschädigten. „Ich denke zudem, dass, wenn damals Geld geflossen wäre, dieses heute kaum noch die Betroffenen in dem Umfang absichern würde, wie es die monatlichen Leistungen durch die Conterganstiftung tun“, so Hudelmaier.

Nach den Wortbeiträgen stand Musik auf dem Programm: Die Band „Bläck Fööss“, die mit ihren genauen Milieu-Beobachtungen des rheinischen Alltags auch über die Grenzen Kölns bekannt wurde, sorgte binnen Minuten für beste Laune und gute Stimmung im Saal. Viele im Publikum konnten jede Zeile mitsingen. Den Gehörgeschädigten wurden nicht nur die Wortbeiträge, sondern nun auch die Liedtexte in Gebärdensprache übersetzt. Es wurde getanzt. Eine Berlinerin gestand, als großer Fan der Band unter anderem auch deswegen angereist zu sein.

 

Viel Freude und ein Hauch Kritik

Bei Kölsch und Fingerfood klang das Treffen aus, das alte Weggefährtinnen und Weggefährten ebenso zusammenführte wie Menschen aus ganz Deutschland, die sich noch nie gesehen hatten. Die meisten Gäste fühlten sich wohl und laut eigener Aussage „wirklich eingeladen, im besten Sinne des Wortes“. Eine aus Hannover stammende Wahlkölnerin sagte: „Es ist sehr schön, so viele Gleichgesinnte zu treffen, bei allen Unterschieden. Gerade nach über zwei Jahren Corona weiß man ja gar nicht, wie geht es den anderen?!“ Ein Mann aus dem Süden der Republik zeigte sich sichtlich gerührt: „Es ist für mich sehr berührend, Teil einer so großen Schicksalsgemeinschaft zu sein und das so direkt zu erleben.“ Für große Freude sorgten auch die anwesenden Eltern, die die Strapazen einer Anreise auf sich genommen haben, um dem „Fest der Begegnung“ beizuwohnen.

„Vielleicht etwas zu kölsch“, so ein Nordlicht. Der Fokus auf die gute Laune und die Weltoffenheit der Stadt (die laut Udo Herterich über Jahrzehnte hinweg stets Großartiges für die Menschen mit Conterganschädigung geleistet habe) sei allerdings sehr ansteckend.

„Vergangenheit ist Vergangenheit“, sagte eine andere Frau mit Conterganschädigung aus Hamburg. „Wir sind doch am Leben. Und das gilt es so lange wie möglich zu genießen.“ Sollte man ein Fazit ziehen, so vielleicht das von Matthias Berg: „Die Vergangenheit prägt uns, aber sie fesselt uns nicht!“

Stellvertretend für eine Vielzahl positiver Rückmeldungen am Tage des Festes sowie im Nachgang per Mail und Telefon nachfolgend eine Nachricht einer Betroffenen:

„Es war ein tolles Fest, mit vielen neuen und alten Bekanntschaften, vielen neuen Eindrücken und viel Freude sowie ein gegenseitiges Kennenlernen von Stiftungsmitarbeiter/-innen und Betroffenen. Ich denke, dieses Fest hat sehr viel zum Gegenseitigen Verständnis und für eine zukünftig noch bessere Zusammenarbeit beigetragen.

Ich bin selbst immer wieder erstaunt, wie vielfältig die körperlichen Einschränkungen sind, die durch Contergan verursacht wurden. Das ist schon eine `Herkulesaufgabe` für die Stiftungsmitarbeiter/-innen, hier jedem einzelnen gerecht zu werden und gut zu beraten. Mir ist durchaus bewusst, was die kurzfristige Umplanung des gesamten Festes aufgrund der großen Teilnehmerzahl für Sie an Aufwand und auch Unsicherheiten mit sich brachte. Als ich auf dem Heimweg erfahren habe, welche weiteren Schwierigkeiten Sie wegen der angekündigten Demonstration zu bewältigen hatten, so kann ich nur den Hut vor so viel Engagement und Mut ziehen.

Ich hoffe, das Fest hat Ihnen gezeigt, dass es soooo sehr viel Betroffene gibt, die hinter der Stiftung und ihren Mitarbeiter/-Innen stehen. Ich wünsche Ihnen und uns Betroffenen viel Erfolg bei der weiteren Ausgestaltung der jetzigen und zukünftigen Aufgabenstellungen.“

 

Bilder vom "Fest der Begegnung"

Weitere Bilder vom "Fest der Begegnung" können Sie hier einsehen.

 

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