Foto der Referenten

Wechselseitige Beziehung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren ist wichtig für Behandlung und Pflege

Im September lud die Medizinische Hochschule Hannover zum 4. Kongress der Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) ein. Zum Programm gehörte diesmal auch ein wissenschaftlicher Vortragsblock zum Thema Contergan. Dabei hielten fünf Redner Vorträge zu verschiedenen Themenschwerpunkten: Es ging um Folgeschäden, den Umgang mit Schmerzen sowie um sozialmedizinische und psychosomatische Aspekte bei der Behandlung von Menschen mit Conterganschädigungen. Bis auf einen Teilnehmer arbeiten alle Referenten als Ärzte an einem der zehn geförderten medizinischen Kompetenzzentren. So auch Gastgeber und Moderator Prof. Stephan Martin vom Kompetenzzentrum an der Diakovere Hannover. Dr. Jan Schulte-Hillen komplettierte als Betroffener die Reihe der Referenten. Die Veranstaltung lockte auch viele Interessierte in den Hörsaal.

 

Folgeschäden und Gesundheitsökonomie

 

Den Einstieg in die Vortragsreihe übernahm Prof. Klaus Peters von der Dr. Becker Rhein-Sieg Klinik in Nümbrecht. Sein Thema: Wie steht es um die Folgeschäden der Menschen mit Conterganschädigung und wie kann diesen Schäden medizinisch begegnet werden?

Hauptziele der gesundheitsökonomischen Betrachtung sei die Beantwortung der beiden Fragen: Gibt es Auffälligkeiten in der Versorgung der Gruppe der Betroffenen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung? Und: Welche Defizite gibt es bzw. welche Lösungswege könnten eingeschlagen werden? Basierend auf Daten der Gesundheitskasse AOK zog Peters das Fazit, dass für Menschen mit Conterganschädigung eine „abweichende Strukturder Inanspruchnahme von Leistungen“ gegenüber der Restbevölkerung bestehe, die sich unmittelbar aus der Schädigung ableiten lasse. Die Kosten der gesundheitlichen Versorgung liegen demnach um etwa ein Drittel höher als im Vergleich zur Gesamtkohorte der Versicherten – insbesondere durch höhere stationäre Kosten, Heilmittel und Hilfsmittel.

Allerdings entstünden kaum höhere Kosten bei Arzneimitteln. Deren Nicht-Inanspruchnahme basiert gemäß der Befragung von Betroffenen tendenziell auf fehlenden Arzneimitteln, aber auch zu hohe Zuzahlungen werden als Grund genannt. Ähnliches gelte für Hilfsmittel. Bei Heilmitteln wiederum würden die Aspekte Verschreibung, mangelnde Versorgungsdichte oder Weigerungen des Arztes von den Patientinnen und Patienten als problematisch angesehen.   

Bei der immer wichtiger werdenden Pflegeversorgung sei festzuhalten, dass die Hälfte der Menschen mit Conterganschädigung gesetzliche Pflegeleistungen erhält und ein Drittel weiteren Bedarf anmeldet. Pflegeleistungen erfolgen zum größten Teil durch Mitglieder der eigenen Familie. Die Institutionalisierung und Professionalisierung der Pflege sei daher kritisch zu sehen. Eine bessere Verzahnung von privater Pflege und institutionalisierter Pflege erscheine somit notwendig, um die Qualität der Versorgung dauerhaft aufrecht zu erhalten, so Prof. Klaus Peters.

 

Sozialmedizinische Aspekte

 

Dr. Volker Stück vom Kompetenzzentrum in Bad Sooden-Allendorf beleuchtete in seinem Vortrag „Sozialmedizinische Aspekte Contergangeschädigter – vor 30 Jahren und heute.“ Demnach benötigten die Betroffenen noch zu Beginn der 1990-er Jahre kaum eine orthopädische Reha-Maßnahme. Ein Grund war offenbar, dass den angeborenen Primärschäden mit guten Kompensationsmechanismen begegnet worden war. Der größte Teil der Betroffenen nutzte Gesundheitseinrichtungen nur, wenn es absolut unvermeidbar schien. Etwa 70 Prozent von ihnen war damals noch erwerbstätig – wobei es keine genaue Erhebung zur Erwerbstätigkeit gibt.

Knapp zwanzig Jahre später habe sich das Bild deutlich gewandelt. Reha-Maßnahmen waren inzwischen bekannter und wurden demnach öfter genutzt. Diese Tendenz verstärkte sich aber auch aufgrund der zunehmend erkannten Spätschäden bzw. diagnostizierten Folgeschäden. Die Kompensationsmechanismen reichten nun nicht mehr aus. Es kam teilweise zu deutlichen Überbelastungserscheinungen am Arbeitsplatz, die Selbstversorgungsfähigkeit im häuslichen Umfeld war immer weniger gegeben. In der Folge war nur die Hälfte der Geschädigten zum Zeitpunkt der Erhebungen 2013 noch erwerbstätig.

Heute liege die Zahl der im Erwerbsleben befindlichen Rehabilitanden bei unter zehn Prozent, so Dr. Stück. Zunehmend gäbe es zurzeit kurzfristige „Reha-Wiederholer“
und vermehrt die Durchführung von Reha-Maßnahmen an Selbstzahlende. Die wichtigsten Reha-Ziele seien heute die Schmerzlinderung, die Vermeidung zunehmender Funktionsstörungen der geschädigten Extremitäten und damit die Vermeidung weiterer Folgeschäden. Damit in Zusammenhang stünde die Minderung des wachsenden Pflege- und Betreuungsaufwands und letztlich der Erhalt der Selbstversorgungsfähigkeit der Betroffenen. Weitere Ziele würden hiervon abhängen- wie etwa der Erhalt der sozialen Teilhabe und die psychische Stabilisierung.

 

Schmerzen als Spätfolgen  

 

Ein zentraler Punkt im Leben von Menschen mit Conterganschädigung sind zunehmende Schmerzen und deren Behandlung. Diesem Thema widmete sich Dr. Rudolf Beyer vom Kompetenzzentrum an der Hamburger Schön-Klinik. Gemäß der Auswertung standardisierter Schmerz-Fragebögen (gestützt durch eigene Erhebungen von 2014-16) sind Nacken und Schulter die typischen Problemzonen. Hier leiden 98 respektive 65 Prozent der Befragten unter Schmerzen. Aber auch Hände und Hüften gehören zu den zentralen Schmerzbereichen von Menschen mit Conterganschädigung.

Die Schmerzregionen entsprächen somit zumeist denen der Fehlbildungen beziehungsweise dem aus ihnen resultierenden Gelenkverschleiß. Entsprechend litten die meisten Befragten (fast 70 Prozent) bereits seit mehr als fünf Jahren unter diesen Schmerzsymptomen; diese begannen also etwa mit dem 50. Lebensjahr.

Dr. Beyer hob hervor, dass die Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren für die Behandlung der Leiden „eine sehr gute Leitschiene für Behandlung und Pflege“ seien. Zum Beispiel verursachten biologische Faktoren wie etwa Gelenkverschleiß chronische Schmerzen, was direkt zur Einschränkung der Mobilität führe. Diese wiederum wirke sich negativ auf schwindende soziale Teilhabe und sinkende Selbstbestimmung aus, was langfristig bei den Menschen zu Ängsten führe, die oft mit Depressionen einhergingen.

Hier, so Beyer, schließe sich gewissermaßen der Kreis: Mittlerweile sei sehr gut nachgewiesen, dass Ängste, negative soziale Erfahrungen und Erwartungen das Schmerzerleben erheblich beeinflussen. So wurde eine thematische Brücke zum nächsten Vortrag geschlagen: den psychischen Leiden von Menschen mit Conterganschädigung.

 

Psychosomatische Aspekte

 

Nach den körperlichen Leiden widmete sich Dr. Alexander Niecke vom Universitätsklinikum und Kompetenzzentrum Köln mit den seelischen Leiden von Menschen mit Conterganschädigung. Erst in Studien der vergangenen Jahre sei der Bedarf an psychologischer Hilfe für die Klientel erkannt worden. Dieser sei demnach sogar weit höher als im vergleichbaren Segment der Restbevölkerung. Verschiedene Faktoren hatten laut Niecke dazu geführt, dass die seelischen Nöte von Menschen mit Conterganschädigung lange gar nicht thematisiert wurden. Einer davon war der medizinische Fokus auf orthopädische Behandlungsbereiche. Mehrere Studien hätten die biopsychosozialen Langzeitfolgen untersucht und dabei deutlich gemacht, dass neben weitreichenden körperlichen auch erhebliche psychosoziale Beeinträchtigungen nachweisbar seien, so Dr. Niecke. In Deutschland gebe mittlerweile nahezu jeder zweite Betroffene an, unter krankheitswertigen psychischen Störungen zu leiden. 

Seit 2017 gibt es am Uniklinikum Köln das Angebot der psychosomatisch-psychotherapeutischen Contergansprechstunde. Niecke und sein Team stehen hier Menschen mit Conterganschädigung und deren Angehörigen bei seelischen Leiden und Nöten zur Verfügung. Zur Vertiefung des Themas haben wir im CIP hierzu einen eigenen Themenschwerpunkt gesetzt. 

 

Dr. Jan Schulte-Hillen über den arteriellen Hypertonus

 

Einziger selbst von Contergan betroffener Gast am Rednerpult war Dr. Jan Schulte-Hillen. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin im schweizerischen Luzern. Schulte-Hillen lenkte die Aufmerksamkeit auf eine erhöhte Mortalität bei Menschen mit Conterganschädigung. Erlitten sie doch bereits im Alter von 40 Jahren verstärkt Herzinfarkte und Schlaganfälle.

 

Als augenscheinlichster Grund zeige sich dabei laut Schulte-Hillen ein unerkannter arterieller Hypertonus – für Laien: erhöhter Blutdruck. Dieser bliebe bei den Betroffenen oft unbemerkt, da deren Gefäße und inneren Organe durch die Thalidomid-Embryopathie (also die vorgeburtliche Conterganschädigung) anders angelegt oder gewachsen seien. Das Messen korrekter (!) Vitalwerte würde dadurch, ebenso wie aufgrund der oft fehlenden oberen Extremitäten, massiv erschwert bzw. sei unmöglich. So blieben zwangsläufig Messergebnisse uneindeutig, ein möglicherweise vorliegender schädlicher Bluthochdruck unentdeckt. Was wiederum Arteriosklerose, Herz- und Schlaganfälle begünstige. Tückisch sei auch: Gerade Menschen mit Conterganschädigung seien besonders anfällig für Bluthochdruck.

In vielen Arztbriefen fand Schulte-Hillen Hinweise auf falsche Ergebnisse bei der Blutdruckmessung. Bluthochdruck wurde demnach oft nur als Nebenbefund, begleitend zu anderen Untersuchungen oder im Rahmen von Messungen bei Operationen festgestellt – und dies, obwohl er bei denselben Patientinnen und Patienten vorher nicht diagnostiziert worden sei.

Diese Auffälligkeit hat Schulte-Hillen auch durch eigene Untersuchungen als signifikant ausgemacht und in Korrelation mit anderen begleitenden Faktoren betrachtet. So etwa mit erhöhten lebensbedingten Stressfaktoren, einem höheren Verschleiß der Blutgefäße aufgrund häufiger Gelenkbewegungen, allgemein behinderungsassoziierten Problemen sowie einen beschleunigten Alterungsprozess durch die Conterganschäden.

Dr. Schulte-Hillen regte an, die Ärzteschaft über das Problem in Kenntnis zu setzen und rief dazu auf, die Mortalitätsraten der Betroffenen eingehender zu untersuchen und die Ergebnisse auch international abzugleichen. So lange keine verlässlichen Messgeräte verfügbar seien, plädiere er dafür, entsprechende Leitlinien zu entwickeln, um per Korrekturfaktoren die Fehlerquoten zu minimieren.

 

Forschung schreitet voran

 

Der 4. Kongress der Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) an der Medizinischen Hochschule Hannover ist ein Beispiel für den wichtigen Wissensaustausch zum Thema Menschen mit Conterganschädigung. Zu den medizinischen Bedarfen der Betroffenen wird vor allem an den zehn von der Conterganstiftung berufenen und geförderten Medizinischen Kompetenzzentren geforscht. Dabei sind Vernetzung und der stetige Austausch von Wissensinhalten und Forschungsresultaten von entscheidender Bedeutung. Dies gilt, wie oben gesehen, ebenso nach innen wie von außerhalb der Kompetenzzentren.

Sie haben Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie unser Kontaktformular, um auf den Beitrag zu reagieren.

 

Auf dem Foto v.l.n.r: Dr. Alexander Niecke, Dr. Volker Stück, Dr. Rudolf Beyer, Prof. Klaus Peters, Dr. Jan Schulte-Hillen, Prof. Stephan Martin