Das Bild zeigt den Rumpf eines Arztes mit Stethoskop

Ein Lebenswerk wird fortgesetzt

Dr. Volker Stück, ehemaliger Chefarzt der Orthopädie in der Klinik und des multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrums Hoher Meißner in Bad Sooden-Allendorf, hat am 1. Januar 2025 seinen Leitungsposten an seine Nachfolgerin abgegeben, Chefärztin Katja Biel. Mit der Leitung einer eigenen Abteilung für die Reha von Menschen mit Conterganschädigung seit 2013, hat Herr Dr. Stück Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet. Frau Biel tritt damit in große Fußstapfen. Wir haben mit beiden über vergangene und zukünftige Arbeit für Menschen mit Conterganschädigung gesprochen.

 

Herr Dr. Stück, Sie haben viele Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung sammeln können, da diese Patientengruppe bereits in den Neunziger Jahren die Klinik Hoher Meißner aufsuchte, eine Fachklinik für Rehabilitation mit Fachabteilungen für Neurologie, Orthopädie und Unfallchirurgie. Mit welchen Problemstellungen kamen diese Menschen damals zu Ihnen und wie konnte die Klinik hier unterstützen?

Stück: In den Neunziger Jahren kamen nur vereinzelt Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigungen in die Klinik Hoher Meißner. Damals waren viele von ihnen noch berufstätig und eine Unterbringung in behindertengerecht eingerichteten Patientenzimmern war zunächst nicht notwendig. Ich selbst war damals noch nicht in der Klinik Hoher Meißner tätig. Erste Erfahrungen mit der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung konnte ich allerdings bereits ab Anfang der Neunzigerjahre während meiner ärztlichen Tätigkeit in der Orthopädischen Klinik Hessisch Lichtenau machen, da diese Patientengruppe dort ambulant und stationär behandelt, zum Teil auch operiert und mit Hilfsmitteln versorgt wurde und wird. Einige von ihnen verbrachten ihre Kindheit und Jugend in den bei der Klinik ansässigen Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung.

 

Frau Biel, Sie gehören einer jüngeren Generation von Ärztinnen an. Wann sind Sie das erste Mal im Rahmen Ihrer Arbeit als Orthopädin und Unfallchirurgin Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung begegnet? Mögen Sie uns Ihre Eindrücke und Erinnerungen schildern?

Biel: Bereits während meiner Zeit als Assistenzärztin habe ich in einer Schule für Physiotherapie in den Fächern Orthopädie und Rheumatologie unterrichtet.

In diesem Rahmen wurde mir das Thema Conterganschädigung bereits nähergebracht, da ich das Wissen an die Schülerinnen und Schüler weitergeben durfte – eine erste intensive Auseinandersetzung mit den besonderen medizinischen Fragestellungen, die mich sehr geprägt hat. Den ersten direkten Kontakt mit Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung hatte ich im Rahmen meiner Vorstellung und Hospitation an der Klinik Hoher Meißner sowie nach Übernahme meiner jetzigen Tätigkeit. Mein Vorgänger hat mich in der Übergangszeit sehr intensiv in die Besonderheiten der Versorgung eingeführt – davon profitiere ich täglich. Ich konnte viel fachliches Wissen mitnehmen und mein vorhandenes Wissen aus der Theorie vertiefen und anwenden. Gleichzeitig ist mir bewusst: Jeder Mensch bringt ganz individuelle Voraussetzungen mit. Deshalb lerne ich täglich dazu, von meinen Patientinnen und Patienten, vom sehr erfahrenen therapeutischen Team, von meinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sowie dem Pflegepersonal. Die Arbeit mit Menschen, die eine Conterganschädigung haben, ist eine verantwortungsvolle, aber auch äußerst bereichernde Aufgabe, der ich mit großem Respekt begegne.

 

2019 wurde die Klinik dann zu einem der vier ersten multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung. Was wollten Sie dieser Patientengruppe bieten, was war Ihre persönliche Motivation, Herr Dr. Stück?

Stück: Durch den intensivierten Kontakt zur Conterganstiftung, zu den Landesverbänden, insbesondere dem Verband Contergangeschädigte Hessen e.V.,

welcher inzwischen Pate der Klinik Hoher Meißner ist, erhielt ich auf vielschichtige Weise Einblicke in die sich stetig verändernde Situation der Menschen mit Conterganschädigung in Deutschland. Es stellte sich heraus, dass die wenigen bisher vorhandenen Reha-Einrichtungen für diese Gruppe sich breiter aufstellen und miteinander vernetzen müssen. Insbesondere beim medizinischen Angebot, bei Diagnostik und Therapie wurde eine Aufteilung auf mehrere medizinische Fachbereiche wichtig. Die Notwendigkeit, multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentren (MMK) zu etablieren und ihre Anzahl in der Fläche zu erhöhen, zeichnete sich immer mehr ab. Mir war es immer wichtig, mich für Menschen mit Conterganschädigungen einzusetzen und für sie persönlich ansprechbar zu sein. Ich war stets in der direkten Betreuung vor Ort tätig und habe Beratungen zu anderen MMK und spezialisierten fachärztlichen Zentren durchgeführt bzw. Kontakte hierzu hergestellt.

 

Frau Biel, wie zufrieden sind Sie, als Nachfolgerin, mit dem Austausch und der Zusammenarbeit der multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Patenverbänden?

Biel: Bisher bin ich mit dem Austausch unter den Kompetenzzentren sehr zufrieden. Bei fachlichen Rückfragen oder konkreten Anliegen unserer Klinik erhalten wir zeitnah Rückmeldungen und auch auf der zwischenmenschlichen Ebene ist die Kommunikation offen und kollegial. Ebenso nehmen wir Hinweise und Rückmeldungen von Patientinnen und Patienten sehr ernst. Auch hier besteht ein direkter und konstruktiver Austausch. Ich wünsche mir, dass dieser Dialog auch zukünftig so lebendig und offen bleibt. Besonders wichtig ist mir, dass wir Kritik – ob positiv oder negativ – als Chance zur Weiterentwicklung verstehen. Nur wenn wir Rückmeldungen aktiv aufnehmen und reflektieren, können wir gezielt an Verbesserungen arbeiten oder auch durch Aufklärung zu mehr Verständnis beitragen.

Auch die Zusammenarbeit mit den Patenverbänden erlebe ich als sehr positiv. Der Kontakt ist wertschätzend, lösungsorientiert und immer im Sinne der Betroffenen. Die Patenverbände leisten einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung und zur Perspektivenvielfalt – und sind damit ein unverzichtbarer Bestandteil der gemeinsamen Arbeit im Kompetenznetzwerk.

 

Und welche Chancen und Mehrwert sehen Sie in dieser Strategie der Vernetzung und dem Austausch untereinander?

Biel: Die strukturierte Vernetzung der Kompetenzzentren ist eine tragende Säule für die Versorgung von Menschen mit Conterganschädigung – fachlich wie menschlich. Nur im intensiven Austausch lassen sich komplexe Krankheitsverläufe individuell und effizient begleiten.

Mit dem Älterwerden kommen bei vielen unserer Patientinnen und Patienten zusätzlich zu den orthopädischen Besonderheiten auch internistische Erkrankungen hinzu. Diese wirken sich sowohl auf operative Eingriffe – etwa bei der Narkose oder im Hinblick auf das perioperative Risiko – als auch auf konservative Behandlungen und Rehabilitationsverläufe aus. Auch bestehende Begleiterkrankungen können sich durch eine Fraktur oder Operation verschlechtern, insbesondere bei längerer Immobilität. Gerade in solchen Fällen zeigt sich, wie wichtig eine multidisziplinäre Herangehensweise ist. Als orthopädische Rehabilitationsklinik können wir enorm von der Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen profitieren. Sie ermöglicht es uns, auf komplexe Krankheitsverläufe schnell, flexibel und qualitätsgesichert zu reagieren – im Sinne einer ganzheitlichen und nachhaltigen Patientenversorgung.

 

Sie sprechen das Älterwerden an, Frau Biel. Wie wirkt sich das auf das Behandlungskonzept und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Ihrem Team aus?

Biel: Unser Behandlungskonzept ist gezielt auf die Herausforderungen des Älterwerdens ausgerichtet. Viele unserer Patientinnen und Patienten erleben mit zunehmendem Alter neue gesundheitliche Einschränkungen – etwa durch zusätzliche degenerative Erkrankungen, abnehmende Mobilität oder eine komplexere Schmerzsymptomatik. Unser interdisziplinäres Team, bestehend aus Orthopädie, Schmerztherapie, Ergotherapie, Physiotherapie, physikalischer Therapie, Psychologie und Sozialarbeit, arbeitet eng zusammen, um individuelle und alltagsnahe Lösungen zu finden. Zukünftig planen wir zudem eine noch engere Zusammenarbeit mit internistischen Fachbereichen. Damit möchten wir nicht nur orthopädische Krankheitsbilder behandeln, sondern auch altersbedingte internistische Begleiterkrankungen – wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Atemwegserkrankungen – frühzeitig mit in den Blick nehmen. So entsteht ein umfassendes Behandlungskonzept, dass der gesamten gesundheitlichen Situation unserer Patientinnen und Patienten gerecht wird.

 

Die Betreuung von Menschen mit Conterganschädigung wurde über die Jahre an der Klinik Hoher Meißner kontinuierlich fortgesetzt. 2013 ist dann eine eigene Abteilung gegründet worden für die Reha dieser Personengruppe mit geschultem Personal und besonders ausgestatteten Patientenzimmern. Wie kam es zu dieser Spezialisierung, was waren die Gründe dafür?

Stück: 2009 wechselte ich an die Klinik Hoher Meißner, die damals bereits als Anlaufstelle für Menschen mit Conterganschädigung überregional bekannt war. Diese Patientengruppe litt zum einen unter Funktionsstörungen als Folge der primären Conterganschädigungen, zum anderen auch unter Beschwerden an weiteren Bereichen des Stütz-und Bewegungsapparates, die durch die jahrelange Über- und Fehlbelastung verursacht waren, wie z. B. an Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenken. Die Fähigkeit zur Selbstversorgung zeigte sich bei vielen zunehmend eingeschränkt und der Hilfsmittelbedarf erhöht. Ein großer Anteil dieser Patientinnen und Patienten war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr erwerbstätig, da sie den Anforderungen am Arbeitsplatz vor allem körperlich nicht mehr gewachsen waren. Parallel entwickelte sich immer deutlicher das Bewusstsein, dass Menschen mit Conterganschädigung eine ganz besondere individuelle – multiprofessionelle - Rehabilitationsmaßnahme benötigten. Bei kontinuierlich steigender Nachfrage eröffneten wir 2013 eine spezielle Abteilung zur Rehabilitation dieser Patientengruppe, schulten das medizinische Personal und statteten Patientenzimmer gemäß der eingeschränkten Selbstversorgungsfähigkeit der Menschen mit Conterganschädigung aus. Bei diesen Prozessen legten wir großen Wert darauf, die Erfahrungen der Betroffenen zu berücksichtigen.

 

Was wird die Zukunft unter Ihrer Leitung, Frau Biel, für das Kompetenzzentrum bringen: Gibt es neue (reha-) medizinische Ansätze, die Sie verfolgen möchten? Oder möglicherweise andere, z.B. strukturelle Dinge, die Sie verändern möchten?

Biel: Ja, wir erweitern unser Behandlungsspektrum kontinuierlich, um den spezifischen Anforderungen dieser besonderen Patientengruppe gerecht zu werden. Ein aktueller Schwerpunkt liegt auf der Rehabilitation nach Gelenkersatzoperationen. Gerade in höherem Lebensalter steigt bei Menschen mit Conterganschädigung der Bedarf an Endoprothetik aufgrund degenerativer Veränderungen – hier ist eine spezialisierte Nachsorge mit angepasster Therapieplanung unerlässlich. Auch der Hilfsmittelbedarf wird regelmäßig überprüft und an veränderte Bedürfnisse angepasst. Gleichzeitig stärken wir die therapeutische Versorgung, insbesondere in der Physio- und Ergotherapie – mit Blick auf Funktionserhalt und Alltagstauglichkeit.

Darüber hinaus entwickeln wir unser Team und unsere Klinikstrukturen gezielt weiter, um auf das mit dem Alter zunehmende Frakturrisiko adäquat reagieren zu können. Dazu gehören Maßnahmen wie angepasste Zimmerausstattungen, optimierte Behandlungskonzepte bei erhöhtem pflegerischem Aufwand und eine interdisziplinär abgestimmte Betreuung. Unser Ziel ist es, auch bei komplexeren Krankheitsverläufen oder nach Operationen eine zeitnahe Rehabilitationsmaßnahme anbieten zu können – individuell, barrierearm und auf höchstem Niveau.

 

Wenn Sie, Herr Dr. Stück, ein Resümee ziehen würden: Was haben Sie für die Menschen mit Conterganschädigung an Ihrer Klinik erreicht?

Stück: Während meiner Tätigkeit in der Klinik Hoher Meißner konnte das medizinische Angebot für Menschen mit Conterganschädigungen nicht nur erhalten, sondern auch erweitert werden. Die Ausstattung der Patientenzimmer wurde um weitere Merkmale ergänzt, auch das therapeutische Angebot wurde ausgebaut. Der Anteil frisch operierter Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigungen, die eine Anschlussheilbehandlung benötigen, stieg in den vergangenen Jahren kontinuierlich an. Dies bedeutet für das in der Klinik tätige Personal eine wachsende Herausforderung und eine ständige Anpassung der pflegerischen Betreuung sowie der therapeutischen Angebote.

 

Könnte man die Arbeit für Menschen mit Conterganschädigung als Ihr Lebenswerk bezeichnen?

Stück: In mehr als 16 Jahren ärztlicher Tätigkeit an der Klinik Hoher Meißner habe ich mich intensiv der Patientengruppe mit Conterganschädigungen gewidmet. Ich persönlich sehe dies durchaus als mein persönliches Lebenswerk.

 

Ihr Vorgänger Dr. Stück hat große Fußstapfen hinterlassen. Was werden Sie an seiner Arbeit übernehmen und weiterführen, wo möchten Sie eigene Akzente setzen?

Biel: Mein Vorgänger hat mit viel Engagement und großer fachlicher Expertise wichtige Strukturen geschaffen, die heute die Grundlage für eine hochwertige Versorgung von Menschen mit Conterganschädigung bilden. Diese solide Basis möchte ich unbedingt erhalten und fortführen – insbesondere den ganzheitlichen Behandlungsansatz und die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit, die in unserer Klinik gelebter Alltag ist.

Neue Akzente möchte ich vor allem in der Weiterentwicklung individueller Schmerztherapiekonzepte, der Integration digitaler Anwendungen und der stärkeren Berücksichtigung altersbedingter Veränderungen setzen. Ziel ist es, unsere Patientinnen und Patienten in jeder Lebensphase bestmöglich zu begleiten – medizinisch, therapeutisch und menschlich.

 

Frau Katja Biel als Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie war schon seit 2023 Leitende Oberärztin in einem Orthopädischen Rehazentrum. Haben Sie das Gefühl, dass Sie eine Nachfolgerin gefunden haben, die das Zentrum in Ihrem Sinne weiterführen wird?

Stück: Auf jeden Fall. Ich bin davon überzeugt, dass ich mit Chefärztin Katja Biel eine Nachfolgerin gefunden habe, die das MMK für Contergangeschädigte in der Klinik Hoher Meißner in meinem Sinne weiterführen und darüber hinaus weiterentwickeln wird. Ich kenne und schätze sie seit vielen Jahren als überaus motivierte, den Patientinnen und Patienten zugewandte und fachlich hoch qualifizierte Ärztin. Darüber hinaus freue ich mich, dass ich ihr während der dreimonatigen überlappenden chefärztlichen Tätigkeit die Besonderheiten eines multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrums für Menschen mit Conterganschädigungen persönlich vermitteln konnte.

 

Zum Abschluss Frau Biel, wie möchten Sie sich und Ihre Abteilung in Zukunft in die Arbeit der Kompetenzzentren einbringen?

Biel: Wir sehen uns als aktiven Teil des Kompetenznetzwerkes und möchten unsere Erfahrungen ebenso einbringen wie neue Impulse aufnehmen. Der regelmäßige fachliche Austausch ist uns dabei besonders wichtig – ich freue mich auf zukünftige Treffen und Kooperationen. Regionaltreffen schätze ich als besonders wertvoll, da sie den persönlichen Dialog fördern und Raum für praxisnahe Zusammenarbeit bieten. Eine enge Abstimmung zwischen Akutkliniken, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie der Rehabilitationsklinik ist aus meiner Sicht unerlässlich, sowohl für den gezielten Informationsaustausch über einzelne Patientinnen und Patienten als auch für eine strukturierte wechselseitige Lernkultur.

Darüber hinaus sehe ich in Hospitationen eine große Chance, Einblicke in die Arbeit anderer Kompetenzzentren zu gewinnen. Wir alle können voneinander lernen – im Sinne der Betroffenen. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um ein länderübergreifendes Netzwerk, dass gemeinsam für eine bestmögliche Versorgung einsteht.

 

 

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