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„Folgeschäden sind ein schwieriges und sensibles Thema.“

Die beim Vorstand der Conterganstiftung angesiedelte Medizinische Kommission prüft jeden Antrag auf Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz. Der Kommission gehören neben ihrem Vorsitzenden derzeit insgesamt 21 Medizinerinnen und Mediziner aus den zehn Fachrichtungen Orthopädie, HNO, Innere Medizin, Neurologie, Urologie, Gynäkologie, Augenheilkunde, Zahnheilkunde, Humangenetik und Embryologie an.

Wer sind die Personen in der Kommission, auf welcher Basis entscheiden sie und vor welchen Herausforderungen stehen sie bei diesem Ehrenamt? Das CIP stellt Ihnen hier die Mitglieder vor. Zum Einstieg in unsere Reihe haben wir den Leiter der Medizinischen Kommission Thomas Toews gefragt. 

 

Sehr geehrter Herr Toews, was genau ist die Aufgabe der Medizinischen Kommission?

Die beim Stiftungsvorstand eingerichtete Medizinische Kommission prüft und entscheidet, ob Fehlbildungen antragstellender Menschen thalidomidbedingt sind. Sie bewertet in diesem Fall Art und Schwere der Fehlbildungen nach Maßgabe der Richtlinien. Die Entscheidung der Medizinischen Kommission ist insoweit Basis des Leistungsbescheids der Stiftung.

Dahinter steht das Conterganstiftungsgesetz. Dieses ordnet an, dass Berechtigte Leistungen aus dem Stiftungsvermögen erhalten. Als Berechtigte gelten Menschen, die durch die Einnahme eines thalidomidhaltigen Medikaments der Firma Grünenthal während der Schwangerschaft ihrer Mütter Fehlbildungen erlitten haben. Die Höhe der Leistungen wird dabei durch die Art und die Schwere der Fehlbildungen bestimmt.

 

Sie sind Rechtsanwalt. Erläutern Sie uns kurz Ihre Tätigkeit als Leiter der Medizinischen Kommission

Das Gesetz sieht vor, dass der Vorsitzende der Medizinischen Kommission „zum Richteramt befähigt“ sein, d.h. ein abgeschlossenes juristisches Studium haben muss. Meine Aufgabe als Vorsitzender der Kommission ist die Leitung des Verfahrensgangs vom Eingang eines Antrags bis zur Entscheidung über dessen Begründetheit.

 

Können Sie uns einen solchen Verfahrensgang schildern?

Wenn ein Antrag auf Gewährung von Leistungen gestellt wird, prüfe ich zunächst, welche Schädigungen beklagt werden. Danach beauftrage ich die Sachverständigen der entsprechenden Fachgebiete mit der Begutachtung und Bewertung der eingereichten ärztlichen Unterlagen (Anmerkung der Redaktion: die Unterlagen sollten nicht älter als drei Monate sein). Die erfolgt unabhängig davon, ob es sich um einen Neuantrag oder um einen bereits als leistungsberechtigt eingestuften Menschen handelt, der die Überprüfung von Art und Höhe seiner Fehlbildungen und damit seiner Leistungsansprüche beantragt.

Eventuelle Rückfragen der Sachverständigen leite ich an die Antragstellenden weiter und fordere ergänzende Unterlagen und Befundungen an, wenn die eingereichten Unterlagen für eine Begutachtung nicht ausreichend sind. Zusätzlich stehe ich sowohl Antragstellenden als auch den Mitarbeitenden der Geschäftsstelle und des Vorstands für Fragen zum Stand des Verfahrens zur Verfügung.

Sind die Gutachten für alle relevanten medizinischen Fachgebiete eingeholt, verfasse ich einen Entscheidungsentwurf für den Vorstand der Stiftung. Dabei berücksichtige ich den ermittelten Sachverhalt und dessen ärztliche Bewertung durch die Sachverständigen der Kommission. Ich fertige also eine abschließende Beurteilung des Sachverhalts im Hinblick auf die Anforderungen des Conterganstiftungsgesetzes.

 

Sind Schädigungen immer eindeutig auf Thalidomid zurückzuführen?

Nicht zwingend. Das Problematische ist, dass alle diese Schädigungen auch ohne die Einwirkung von Thalidomid auf das embryonale Leben auftreten. Zudem wurden und werden sie sowohl zeitlich vor als auch nach der Verfügbarkeit von Contergan und anderen thalidomidhaltigen Medikamenten von Grünenthal beobachtet. Man kann sagen, Thalidomid verursacht insoweit keine exklusiv auf diesen Wirkstoff zurückzuführenden Schädigungen, sondern „kopiert“ Schädigungen, die auch eine ganz andere Genese haben können. Das macht die Beurteilung im Einzelfall und vor allem bei heute eingehenden Neuanträgen häufig schwierig.

Es gehen teilweise Anträge von Menschen ein, die erst im mittleren oder inzwischen höheren Lebensalter erstmalig die Vermutung äußern, ihre Fehlbildungen könnten durch mütterliche Thalidomideinnahme verursacht worden sein. Hierbei ist meist nicht mehr klar zu belegen, ob und welches Medikament die Mutter zu welchem Zeitpunkt während der Schwangerschaft eingenommen hat. Selbst wenn dies aufgrund von Unterlagen oder Zeugenaussagen wahrscheinlich gemacht werden kann, ist häufig nur schwer zu ermitteln, wie der Gesundheitszustand der antragstellenden Person bei Geburt tatsächlich war.

 

Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?

Die ärztlichen Sachverständigen der Kommission versuchen dann zunächst, sich quasi detektivisch einer Entscheidung über die Ursache zu nähern: Hinweise, die pro oder contra Thalidomid als Ursache der Schädigungen sprechen, werden wie Mosaiksteinchen gesammelt, um dann zu einer möglichst einmütigen Entscheidung im Gremium zu gelangen. Darüber, ob sich das konkrete Schadensbild mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einem in der Literatur veröffentlichten, aber auch durch langjährige Erfahrung bekannten Schädigungsmuster der Thalidomidembryopathie zuordnen lässt.

 

…also der eindeutigen Schädigung des Embryos durch Thalidomid?

Ja. Für den orthopädischen Bereich ist hier zum Beispiel die an der Längsachse des Körpers ausgerichtete (fachlich: radial-longitudinale Ausrichtung, Anm.) knöcherne Schädigung an den Händen und Armen richtungweisend: Aufgrund der Reihenfolge, in der sich das Skelett eines Ungeborenen entwickelt, kann eingegrenzt werden, dass die schädliche Wirkung von Contergan zuerst die Daumenseite der Hand, dann den Radius (Speiche) und anschließend den Humerus (Oberarmknochen) betrifft. Hingegen sind die Ulna (Elle) und die Mittel-, Ring- und kleinen Finger, die sich später herausbilden, noch erhalten.

Auch bei Antragstellenden, die bereits dem berechtigten Personenkreis angehören, können Schwierigkeiten entstehen. So etwa, wenn sie im Rahmen eines Antrags auf Neubewertung ihrer Schädigungen eine bislang nicht erkannte Schädigung geltend machen. Hier muss der oder die jeweilige Sachverständige entscheiden, ob die geltend gemachte Schädigung bereits bei Geburt vorlag oder angelegt war. Denn nur solche dürfen bewertet werden.

Eine andere Herausforderung sind Krankheitsbilder, die bislang nicht als durch Thalidomid verursacht gelten. Hier kann die Medizinische Kommission eine Anerkennung vornehmen, wenn sie es für überwiegend wahrscheinlich erachtet, dass Thalidomid die Ursache war. Etwa weil diese Fehlbildung in der Gruppe der von Contergan Betroffenen Menschen empirisch belegbar signifikant häufiger vorkommt als in der gleichaltrigen Gruppe der Gesamtbevölkerung.

 

Wie wird eine Schädigung denn nun genau ermittelt bzw. festgestellt?

Es ist zunächst einmal Sache der Antragstellerinnen und Antragssteller, das Vorliegen behaupteter Körperschäden durch Vorlage entsprechender Befunde zu belegen. Aufgabe der Kommission ist danach die Prüfung und Feststellung, ob nachgewiesene Schädigungen mit der Einnahme von Thalidomid während der Schwangerschaft der Mutter in Verbindung gebracht werden können. D.h., ob nachgewiesene Schädigungen überwiegend wahrscheinlich hierauf zurückzuführen sind.

Reicht bei Antragstellung schon die Befundlage nicht aus, das Vorliegen der behaupteten Fehlbildungen nachzuvollziehen, lassen wir den Antragstellenden aber natürlich nicht allein. Wir weisen ihn oder sie dann darauf hin, dass weitere Unterlagen beigebracht werden müssen, und welche davon, um seinen Antrag final prüfen zu können. Wenn uns auffällt, dass zusätzliche, noch gar nicht geltend gemachte Fehlbildungen vorliegen könnten, weisen wir natürlich auch darauf hin. Insoweit regen wir dann auch hier die Vorlage ergänzender ärztlicher Befunde an.

 

Wie gehen Sie und die Gutachterinnen und Gutachter mit Anträgen zu Folgeschäden um? Diese können ja in der Regel nicht immer direkt auf Contergan- bzw. Thalidomid zurückgeführt werden.

Folgeschäden und Verschlimmerungen bei thalidomidgeschädigten Menschen sind für alle Beteiligten ein schwieriges und sensibles Thema.

Denn Folgeschäden und Verschlimmerungen von Schädigungsauswirkungen sind nach den Bestimmungen des Conterganstiftungsgesetzes grundsätzlich nicht entschädigungsrelevant, obwohl sie häufig zu signifikanten Verschlechterungen der individuellen Lebenssituation führen. Nach meiner Erfahrung ist dies oft schwierig zu vermitteln.

 

Was genau steht dazu im Conterganstiftungsgesetz?

Das Conterganstiftungsgesetz bestimmt, dass sich die Entschädigung eines thalidomidgeschädigten Menschen allein nach Art und Grad seiner Fehlbildungen bestimmt. Und zwar so, wie sie bei Geburt bereits vorlagen oder angelegt waren. Die Fehlbildung als solche wird also bewertet und nicht die im Laufe eines Lebens erwartungsgemäß steigende Beeinträchtigung der Lebensführung wegen der Fehlbildung („Verschlimmerungen“). Und erst recht nicht wegen der Fehlbildung eintretenden Folgeerkrankungen.

 

Haben Sie dazu ein Beispiel?

Wenn beispielsweise eine Fehlbildung von Daumen und Fingern im Laufe des Lebens zur Folge hat, dass die Greiffähigkeit der Hand nachlässt, handelt es sich um eine Funktionseinschränkung. Also um eine Verschlimmerung, die nicht zusätzlich bewertet wird. Gleiches gilt für alterungsbedingt zunehmende Schmerzen aufgrund fehlbildungsbedingter Haltungsschäden oder Überbeanspruchungen.

Oder: Mangelnde sportliche Betätigungsmöglichkeit als Folge von Fehlbildungen kann zu Bluthochdruck oder Übergewicht und infolgedessen zu Arteriosklerose oder Diabetes führen. Diese Erkrankungen sind zwar auch eine Folge der Fehlbildung der Geschädigten, führen aber ebenfalls nicht zu einer Erhöhung der Leistungen.

Mit der vom Gesetzgeber festgesetzten Höhe der Entschädigung für eine geburtlich vorliegende Fehlbildung werden also nicht nur die originären, sondern auch künftige Schadenauswirkungen abgegolten. Der Medizinischen Kommission sind hier die Hände gebunden: Sie muss sich an den Gesetzeswortlaut, die Satzung der Stiftung und die Richtlinien halten.

 

Hat sich an den Beurteilungskriterien hinsichtlich Folgeschäden gegenüber früher etwas geändert?

Nein, und das muss nach der Konzeption des Gesetzes auch so sein. Eine gleichartige Fehlbildung kann im Laufe des Lebens individuell unterschiedliche Auswirkungen haben. Hinzu kommt, dass für den Gesundheitszustand der aktuell um die 60 Jahre alten Menschen mit Conterganschädigung ja nicht nur die jeweilige Fehlbildung entscheidend ist. Vielmehr wurde und wird dieser zusätzlich von vielen anderen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Der Gesetzgeber hat sich dazu entschieden, bei Geburt gleichartige Schädigungen gleich zu bewerten und zu entschädigen. Dies ist ein vertretbarer und von der Kommission zu beachtender Ansatz.

 

Die Kommission vereint Gutachterinnen und Gutachter aus unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen. Wie wichtig ist diese Ausdifferenzierung?

Ich halte sie für sehr wichtig, weil die Feststellung der Ursache von Fehlbildungen häufig ausgesprochen schwierig ist und große Expertise sowie Erfahrung im jeweiligen Fachgebiet erfordert. Schließlich handelt es sich um die Abgrenzung einer Thalidomidembryopathie von anderen ggf. auch syndromalen Ursachen. Ein „Allrounder“ wäre da – so fürchte ich – oft überfordert.

 

Wodurch wird die Unabhängigkeit der Kommission gewährleistet?

Die Mitglieder der Medizinischen Kommission verstehen sich als neutrale und überparteiliche Gutachterinnen und Gutachter. Sie betrachten es als ihre Pflicht, ihren vorstehend bereits dargestellten Aufgaben objektiv, unabhängig und ohne Ansehung der Person nachzukommen.

Die Kommission ist zwar „beim Vorstand eingerichtet“, wie es das Gesetz formuliert. Aber der Vorstand ist den Mitgliedern der Kommission gegenüber nicht weisungsbefugt und nimmt auch keinen Einfluss auf deren begutachtende Tätigkeit. Dies gewährleistet die fachliche Unabhängigkeit der Kommission.

Alle Mitglieder der Kommission arbeiten ehrenamtlich und erhalten lediglich eine Aufwandsentschädigung. So wird auch die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Stiftung ausgeschlossen.

 

Die Vertrauensbasis des Vorstands in die Entscheidungen der Gutachterinnen und Gutachter ist entscheidend. Wie gewährleisten Sie dieses Vertrauen?

Ich denke, dass die Mitglieder der Medizinischen Kommission ihre Aufgaben hochqualifiziert und verantwortungsvoll wahrnehmen. Deshalb verdienen sie das Vertrauen des Stiftungsvorstands aber auch und nicht zuletzt das Vertrauen der antragstellenden Menschen.

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