Das Bild zeigt verschiedenes Obst und Gemüse

„Gesunde Ernährung braucht Rituale“

Gibt es für die gesunde Ernährung spezielle Regeln für Menschen mit Behinderung? Dazu haben wir die Oecotrophologin Dr. Annette Nagel befragt. Die Ernährungsberaterin ist auf die Beratung von Menschen mit Behinderung spezialisiert. Grundsätzliches lässt sich daher auch auf Menschen mit Conterganschädigung übertragen.

 

Frau Dr. Nagel, was gilt es bei Fragen der richtigen Ernährung grundsätzlich zu beachten, wenn wir von schwer-, schwerst- oder mehrfach behinderten Menschen sprechen?

Die allgemeinen Ernährungsempfehlungen für behinderte Menschen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Ernährungsempfehlungen für Nichtbehinderte. Die Vielfalt der einzelnen Behinderungsarten erfordert allerdings in jedem Fall eine individuelle Vorgehensweise bei der Ernährung, insbesondere bei Schwerstbehinderung. Da muss man dann schauen, was für eine Behinderung und Problematik genau vorliegt.

 

Was kommt erschwerend im Alter hinzu?

Es gibt Probleme, die im Alter verstärkt auftreten. Bei Vorliegen spezieller Ess- und Ernährungsprobleme, z.B. bei Kau- und Schluckproblemen, kann je nach Schweregrad der Behinderung der Einsatz besonderer Kost- und Zubereitungsformen unumgänglich sein. Diese spezielle Ernährung wird vom behandelnden Arzt sowie der Ernährungsberatung dementsprechend auf den Patienten abgestimmt und sollte dann mit dem familiären Umfeld und der Betreuung eingeübt werden. Es muss individuell auf die Bedürfnisse derjenigen Person abgestimmt sein. Alle müssen mitziehen.

 

Als Oecotrophologin kennen Sie sich mit Lebensmitteln, Inhaltstoffen und deren Wirkung auf den menschlichen Körper aus. Gibt es da generell Unterschiede zwischen behinderten und nicht-behinderten Erwachsenen?

Ernähren müssen wir uns ohne Ausnahme alle, ob mit oder ohne Behinderung. Die Ernährung sollte ausgewogen und vielseitig sein. Und wir sollten allem voran unbedingt auf einen ausgeglichenen Wasserhaushalt achten. Ein Erwachsener benötigt am Tag mindestens zwei bis zweieinhalb Liter Flüssigkeit, idealerweise Wasser.

 

Manchmal liest man von vier oder mehr Litern…

Wenn Sie mehr zu sich nehmen, schadet das nicht. Aber diese Menge von zwei- bis zweieinhalb Litern ist wichtig, um Lunge, Darm und Nieren am Laufen zu halten. Allein über die Haut verlieren wir an normalen Tagen einen halben Liter Flüssigkeit. Man sollte nie mehr als 200 ml auf einmal und grundsätzlich immer vor den Mahlzeiten trinken. Gerade für Ältere sind Rituale, Routinen dabei wichtig: morgens ein Glas Wasser bereitstellen, mittags sollte es getrunken sein. Und so weiter, über den Tag hinweg.

 

Rituale einüben ist mühsam, vor allem als älterer Mensch…

Ja. Gerade das regelmäßige Trinken wird bereits gerne umgangen, da der Gang zur Toilette meist ein Mehraufwand ist und strapaziös sein kann. Erst recht für Menschen mit Behinderung. Dennoch ist hier darauf zu achten, den Stoffwechsel zu unterstützen. Zur Überprüfung: Der Tagesurin sollte sehr hell und Wasserfarben sein.

Das Einüben muss auch von der Betreuung oder den Partnerinnen und Partnern der Menschen forciert werden. Bevor die eigentliche Ernährung umgesetzt werden kann, muss also das richtige Handwerkszeug und das entsprechende soziale Umfeld dies auch als Grundbedingung gewährleisten können. Insbesondere bei einem Handicap oder einer Behinderung sind hier besondere Schwerpunkte zu legen, vor allem während der Esssituation am Tisch und während des Tages.

 

Kann man einen wissenschaftlich fundierten Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und sogenannter „guter“ Ernährung herstellen?

Ja, das ist sehr gut erforscht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung DGE zeigt dies in ihren jeweiligen Jahresberichten auf. Wobei ich „gute Ernährung“ nicht so pauschal sagen würde. Geschmack und Gewohnheiten spielen ja auch eine Rolle. Ebenso Allergien und Unverträglichkeiten. Aber richtig, eine Ernährung sollte trotz allem ausgewogen, vielseitig, saisonal und regional sein. Die Mahlzeiten sollten möglichst nicht „totgekocht“ oder immer wieder aufgewärmt werden.

Die Hauptessen in der Woche sollten sein: Einmal in der Woche Fisch mit einer Gemüsebeilage, die dem doppelten der Menge des Fisches entspricht, einmal pro Woche Fleisch mit einer Gemüsebeilage, die der dreifachen der Menge des Fleisches entspricht.

Dann eine Mahlzeit aus Hülsenfrüchten, einmal Getreide, einmal Kartoffeln und einmal Teiggerichte sowie einen Gemüseeintopf. Gemüse sollte ansonsten als Rohkost gegessen werden oder dampfgegart sein. Vollkornbrot und Müsli (ohne Zucker) sind auch ideale Mahlzeiten.

 

Unter den Menschen mit Conterganschädigung gibt es auch sehr schwere Fälle von Schädigungsbildern, und sie leben seit etwa 60 Jahren damit. Kann eine umgestellte Ernährung hier noch zu besserer Lebensqualität oder nur zu besserem Wohlbefinden beitragen?

Menschen mit einer Conterganschädigung haben oft Probleme mit ihrem Knochenbau und den daraus folgenden Abnutzungen durch die Anforderungen unserer Welt. Alles ist zu hoch, zu lang, schwer zu erreichen, etc. Alles muss mit dem Muskel- und Knochenaufbau eines Menschen mit einer solchen Schädigung bewältigt werden. Mit dem oben genannten Grundplan vermeiden Sie Übergewicht, was gerade für Menschen im Rollstuhl oder Bewegungsmangel entscheidend ist und Altersdiabetes vermeiden kann. 

 

Kann man dem Knochenverfall entgegenwirken?

Der Knochen kann insbesondere mit einer calciumhaltigen Ernährung neben gezielten Gymnastikbewegungen, sportlichen Aktivitäten unterstützt werden. Da reicht schon ein Stück Käse mit hohem Fettanteil oder andere fetthaltige Milchprodukte wie etwa Quarkcreme mit Sahne und frischem Obst. Hier ist Fett also gut: Je fetter das Milchprodukt, umso besser ist die Calcium-Aufnahme in die Knochen.

Weiterhin sind die „sinnvollen Kohlenhydrate“ ein wichtiges Thema, das heißt möglichst wenig Zucker! Denn diese können unseren Blutzuckerspiegel stark durcheinanderbringen, da sie regelrecht ins Blut „schießen“. Gemüse und Kohlehydrate aus Vollkornprodukten und auch Kartoffeln sind da langsamer.

 

Heißt, es ist wichtig, was überhaupt an Essen ins Haus kommt?

Ja sicher. Eine gesunde Ernährung fängt beim Einkaufen an und damit, dass ich auf die Zutatenliste schaue. Das, wovon am meisten im Nahrungsmittel drin ist, steht an oberster Stelle. Oft sind es Zucker in jeglicher Form, die werden bei der Zutatenliste alle zusammengerechnet! Ebenso wie Salz sollten Zuckerstoffe also möglichst am Ende der Aufzählung stehen. Auch wenn es schwerfällt, stellen Sie das Produkt also lieber wieder ins Regal und suchen sich ein anderes.

Doch beim Thema Essen darf man die Verdauung nicht unterschlagen. Die ist eigentlich das Wichtigste. Sie wird gerade im Alter nicht besser und sollte daher gut gepflegt werden, und zwar durch einen guten Anteil an Vollkorn, Rohkost und fermentierten Lebensmitteln. Außerdem sind ein bis zwei Esslöffel rohes Fasssauerkraut oder Kimchi eine hervorragende Unterstützung des Darms.

Es gibt eine Faustregel: Nahrung, die gut gekaut werden muss, ist gut für den Darm, alles was weich ist, nur bedingt.

 

Welche Rolle spielen Schädigungen der inneren Organe für die Ernährung, etwa wenn die Gallenblase fehlt, Leber oder Nieren nicht richtig arbeiten…?

Wenn man seit vielen Jahren mit einer solchen Schädigung lebt, ist man in der Regel bereits vom Arzt per Medikament darauf eingestellt. Hier wissen Sie dann, was Sie in Bezug auf das Medikament zu sich nehmen können und sollten. Das muss Hand in Hand gehen. Es gilt aber immer, insbesondere bei einer Schädigung der inneren Organe, dass die Nahrung gut gekaut und eingespeichelt werden sollte. Gesund beginnt im Mund!

Neuere Studien zeigen, dass Contergangeschädigte ein erhöhtes Risiko an Herz-Kreislauferkrankungen haben. Auch hier lässt sich mit dem oben skizzierten Ernährungsplan, idealerweise in Kombination mit etwas Bewegung, sehr gut vorbeugen.

 

Gibt es etwas, das Menschen mit schwerer Behinderung gar nicht essen sollten?

Abgesehen von individuellen Unverträglichkeiten, die vielfältig sein können, sollte der hohe Zucker- und Salzkonsum immer bedacht werden. Salz sollten wir pro Tag nur etwa fünf Gramm essen; das ist nur ein gestrichener Teelöffel! Übrigens, Salz ist ein Mineral und streng genommen kein Gewürz. Nehmen Sie daher zum Würzen lieber alle anderen Gewürze aus dem Gewürzschrank!

Auch Zucker sollte wenig eingenommen werden. Dieser lässt sich gut durch Obst, also natürliche Zucker in frischer oder getrockneter Form, ergänzen.

 

Essen ist nicht nur Ernährung, es ist auch Genuss, Spaß, Belohnung. Wie gehen Sie damit um, wenn Essen zur Kompensation dient, etwa zum Abbau von Frust?

Ehrlich gestanden: Wir sind alle unterschiedlich und keine Maschinen. Die Ernährungswissenschaft braucht in allen Fällen Rechenmodelle, um irgendwie eine allgemeine Aussage treffen zu können. Pauschale Aussagen sind daher schwierig. Wir sind alle Individuen und so ist auch unser Verhalten sehr individuell. Insbesondere bei dem Thema Frust, Lust und Laune. Dennoch haben wir in der Praxis eine einfache Regel: Es gibt Lebensmittel, die summen und es gibt Lebensmittel, die winken.

 

Bedeutet?

Summen steht für die Lust. Wenn es also summt, wenn wir so richtig Lust danach haben, dann brauchen wir dieses Lebensmittel, im Sinne von wir benötigen es jetzt. Das Winken steht eher für die Gelegenheit. Winkt ein Lebensmittel einen an, weil es etwa gerade auf dem Tisch steht oder uns von der Kuchentheke aus anlacht, dann brauchen wir es absolut nicht.

 

Ist es ratsam, sich Ernährungsexpertise und Assistenz ins Haus zu holen?

Viele Menschen mit Behinderung sind auf Assistenz angewiesen und haben Hilfe ohnehin im Haus. Das können gut informierte und nahe Verwandte, Partner bzw. Partnerinnen oder Freunde und Freundinnen sein. Wer das nicht hat und zunehmend unsicher in der eigenen Ernährung ist, sollte sich ruhig Rat einholen.

 

Ihnen geht es auch um die Praxis. Wie setzt man Ihre Tipps am besten um?

Man muss gewisse Dinge zunächst einsehen und natürlich einüben, sich an sie gewöhnen. Da Essen auch ein sozialer Aspekt ist, ist es sinnvoll, sich zusammenzutun, gemeinsam zu handeln. Ich bin immer fürs Tun und in sich reinhören: wie geht es mir damit? Komme ich etwa mit der Flüssigkeitszufuhr zurecht? Wenn man nicht weiterkommt, sollte man vielleicht auch einer Selbsthilfegruppe beitreten. Oder sich Expertise holen.

 

LINK

Die wichtigsten Grundregeln hat Frau Dr. Nagel nochmals zusammengefasst und mit Grafiken unterfüttert. 

Essen mit Köpfchen