Das Foto zeigt Dr. Bruckhaus-Walter und Claus Hanke

„Ich bin versorgt. Mir wird geholfen, ich habe weniger Schmerzen. Das ist, was ich weitertragen wollte“

Claus Hanke hat diverse Conterganschädigungen und ist Patient der Gemeinschaftspraxis „hernerhausaerzte“. Der Leiter der Praxis, Dr. Markus Bruckhaus-Walter ist ein langjähriger Freund. Ihn hat Hanke auch zur Teilnahme am Interessenbekundungsverfahren in Sachen Kompetenzzentrum für Allgemeinmedizin ermutigt. Seit 2024 ist die Praxis eines von zehn multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren und wird von der Conterganstiftung gefördert. In unserem Interview berichtet Hanke über zentrale Episoden in seinem Leben und sagt, wie wichtig es für Menschen mit Conterganschädigung ist, die richtigen Anlaufstellen zu haben.

 

Herr Hanke, können Sie uns kurz etwas zur Ihrer Conterganschädigung erzählen?

 

Die Liste ist lang. Mir fehlen beide Arme, ich habe nur drei Finger. Ansonsten habe ich diverse andere Schäden, auch innere, wie eine fehlende Niere. Außerdem ist meine Hüfte geschädigt. Meine Orthopäden haben damals gesagt, mit 30 Jahren säße ich im Rollstuhl. Das ist bis heute glücklicherweise nicht so gekommen.

 

Sie sagen, Sie haben von außen immer wenig an sich herangelassen. Das hat Ihnen geholfen?

 

So in etwa. Man kann das positiv oder negativ sehen. Andere Mitbetroffene haben vielleicht eher Probleme damit, viel beobachtet und gesehen zu werden. Ich dagegen habe vieles auf Grund meines Autismus gar nicht erst mitbekommen. Ich habe die anderen Menschen ausgeblendet und Kontakte vermieden. Das Manko wiederum ist, dass man sich dadurch isoliert und einsam wird.

Dazu gibt es übrigens eine Studie aus Schweden, die den Verdacht äußert, dass Autismus eine Begleiterscheinung von Thalidomid sein könnte. Ein anerkannter Schaden wird es nicht, glaube ich. Insgesamt ist die Kohorte wohl auch sehr klein.

 

Ihr Beispiel zeigt erneut: Schädigungen durch Contergan sind trotz der Häufung mancher Schädigungsbilder sehr individuell. Wo liegen Ihre Beschwerden heute?

 

Das hängt damit zusammen, was ich bereits erwähnt habe. Ich hatte keine tolle Kindheit, war nicht sehr aktiv und eher in mich gekehrt. Viele Eltern von Geschädigten waren sehr engagiert und haben ihre Kinder früh dazu angetrieben, möglichst selbstständig zu sein. Ich hingegen war das bis zum 17. oder 18. Lebensjahr gar nicht und deshalb immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Das hat dazu geführt, dass manche Verschleißerscheinungen bei mir heute nicht so weit fortgeschritten sind wie bei jenen, die schon früh in der Kindheit selbstständig waren und auch während des Wachstums ungewöhnliche Körperhaltungen und Kompensationsbewegungen angewendet haben. Denen geht es heute rein körperlich schlechter als mir. Ich habe einfach bestimmte Bewegungsabläufe vermieden. So hat alles seine zwei Seiten.

Aber seit meiner Kindheit habe ich starke Rückenschmerzen. Es gibt bis heute mehrere Stellen, die chronisch weh tun, das begleitet mich täglich. Aber mittlerweile kann ich damit besser umgehen.

 

Wie kam es zu Ihrer langjährigen Freundschaft mit Dr. Bruckhaus-Walter, einem der Leiter des Kompetenzzentrums in Herne?

 

Wir haben uns damals, vor inzwischen 42 Jahren, kennengelernt, aber dann wieder aus den Augen verloren. Markus ging Medizin studieren; das war immer sein Herzenswunsch, schon bevor wir uns kannten. Wir konnten uns aber immer anrufen. Er hat mir damals auch zu meiner ersten Wohnung verholfen. Im Übrigen stammt mein ganzes soziales Umfeld bis heute komplett aus dieser frühen Zeit unserer Bekanntschaft.

 

Sie haben wiederholt gesagt, dass Sie eine Odyssee von Arztbesuchen hinter sich haben. War es nicht naheliegend, sich sofort an Ihren Freund Dr. Bruckhaus-Walter zu wenden?

 

Er war damals noch kein Arzt und später zunächst im Krankenhaus angestellt. Anfangs habe ich ihm gar nicht viel über mich erzählt. Auch hier spielt der Autismus eine Rolle. Zudem fragt man einen Freund nicht unbedingt nach medizinischen Dingen. Daher rannte ich bei Problemen und Schmerzen von Arzt zu Arzt. Niemand konnte mir wirklich helfen. Keiner konnte mir Blut abnehmen, Blutdruckmessen ging auch nicht.

Irgendwann wollte es dann der Zufall, dass Markus mich ausgerechnet eingeladen hatte, als es mir richtig dreckig ging. Er hat dann hartnäckig nachgefragt und brachte schließlich einen guten Physiotherapeuten ins Spiel, der dann gleich vorbeikam. So kam das Ganze ins Rollen. Das Besondere war, dass dieser Therapeut seine Ausbildung in den Niederlanden gemacht hatte. Und die ist nun mal, das muss man ganz klar sagen, professioneller als hier.

 

Was ist das Besondere an der Praxis in Herne? Was bietet man dort Menschen mit Conterganschädigung, was andere nicht leisten?

 

Sie haben einfach viel Vorwissen. Man weiß dort über Contergan Bescheid, über die Eigenarten der Krankheitsbilder. Ich kann also dorthin gehen und weiß, wenn ich zum Beispiel Blut abgenommen bekomme, dann muss ich nicht zittern. Andere Ärzte schicken einen unter Umständen wieder nach Hause, wenn man keine Arme hat. Und da die „hernerhausaerzte“ eine Gemeinschaftspraxis sind, ist die Ausstattung mit technischen Geräten viel besser. Etwa, um die Durchlassgeschwindigkeit zu messen oder Durchblutungsstörungen zu erkennen, was dann wiederum zur Ermittlung des Blutdrucks genutzt werden kann. Ich bin jetzt 63, und erst seit 20 Jahren kann ich relativ sorglos zum Arzt gehen. Ich weiß, dass das nicht viele Betroffene sagen können.

Wenn ich etwa akut Schmerzen habe, bekomme ich dort eine Überweisung. Viele Betroffene bekommen erst gar keine Überweisung zum Physiotherapeuten, weil die Hausarztpraxen unter Umständen Probleme mit ihrem Budget bekommen. In diesem Zusammenhang ist der ICD-Schlüssel wichtig, mit dem solche Überweisungen leichter möglich sind. Und so etwas muss man eben wissen.

 

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass solche Zentren eingerichtet wurden?

 

Es wurde einfach Zeit. Vor 20 Jahren hat noch niemand an Contergan-Kompetenzzentren gedacht. Aber damals habe ich schon versucht, irgendwie zu organisieren, dass man das institutionalisiert. Das war sehr schwierig. Es fehlte der Überbau, es gab keine Strukturen, der Austausch auch unter uns Betroffenen war schwierig zu organisieren. Mein Ansatz war auch, mich an die Conterganstiftung zu wenden und darauf aufmerksam zu machen. Durch das geförderte Netzwerk der Kompetenzzentren ist die Struktur jetzt da.

Es ist für uns Betroffene wichtig, Praxen, Kliniken oder Einrichtungen zu finden, die die gesamte Contergan-Problematik kennen. Sie müssen geleitet werden von Leuten, die das Thema verinnerlicht haben. Und sie sollten natürlich möglichst barrierefrei oder barrierearm sein. Das ist allgemein immer noch zu selten der Fall. Ebenso bräuchte es taktile Elemente, Ergänzungen für Sehbehinderte oder Gehörlose etwa. Das sind Themen, die man angehen muss. In den Kompetenzzentren nehme ich die notwendige Sensibilität dafür wahr. Im Austausch mit uns Betroffenen entstehen zudem Gedanken, die anderen Leuten gar nicht einfallen.

 

Zum Beispiel?

 

Beispielsweise: Wie geht man etwa damit um, dass einige Betroffene noch laufen können und andere im Rollstuhl sitzen. Im Fokus steht immer die Selbstständigkeit. Man muss sehen: was können Behinderte alles, wie bleiben sie selbstbestimmt? Oder dass man zum Beispiel einen Empfangsbereich hat, an dem man auch mit dem Rollstuhl gut herankommt und sich auf Augenhöhe unterhalten kann. Auch wenn das kleine Dinge sind: Man muss sich permanent Gedanken darüber machen, was man noch verbessern kann.

 

Was kann die Stiftung nun in einem nächsten Schritt tun, um die Zentren weiterzuentwickeln?

 

Die Vernetzung von Wissen ist das A und O. Aus meiner Sicht ist es ganz wichtig, dass man sich stetig austauscht. Offene Kommunikation trägt immer Früchte. Die Zentren sind untereinander schließlich keine Konkurrenten. Und ich glaube auch, dass die Idee nicht nur in unsere Contergan-Community hinein weiterträgt. Mein eigentlicher Kernansatz ist: Ich bin versorgt. Mir wird geholfen, ich habe weniger Schmerzen. Das ist, was ich weitertragen möchte. Da haben wir gemeinsam mit der Conterganstiftung für uns Betroffene etwas erreicht. Mir liegt aber auch am Herzen, dass so etwas auch allgemein für die Behinderten-Community gelingt.

 

Werden die „Herner“ nun verstärkt von anderen Menschen mit Conterganschädigung aufgesucht, seit sie Kompetenzzentrum sind?

 

Das scheint so zu sein. Ich habe vor kurzem zum ersten Mal einen anderen Menschen mit Conterganschädigung dort getroffen. Es gilt immerhin das Arztgeheimnis, also kann ich es nicht genau sagen. Aber nach Erscheinen des WAZ-Artikels im Frühjahr haben sich wohl einige Leute gemeldet. Sie wurden dadurch erst auf die Praxis in Herne aufmerksam. Schon wegen der typischen Probleme, die ich darin geschildert habe.

Wie gesagt ist es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten mit dem Thema Contergan generell etwas anfangen können. In Herne ist das so. Und daher geht es darum, dass man dieses Wissen auch wirklich in die Breite trägt. Die junge Ärztegeneration weiß das ja alles gar nicht. Und sie wird zahlenmäßig weniger aufgrund des Ärztemangels.

 

Sie unterstützen die Praxis in Herne aber auch durch praktische Arbeit?

 

Ich bin sozusagen IT-ler der ersten Stunde. Bis 2011 habe ich mehr als 17 Jahre lang für eine mittelständische Unternehmensgruppe in der Lebensmittelbranche gearbeitet. Daraus ergab sich für mich ein Netzwerk aus IT-Dienstleistern deutschlandweit. Dr. Bruckhaus-Walter beriet ich bei den ersten Entscheidungen zur Praxis-IT und habe ihm einen IT-Dienstleister vermittelt, mit dem ich schon mehrfach erfolgreich zusammengearbeitet habe. Dieser betreut bis heute die Praxis-IT in Herne.

Leider sind kompetente IT-Mitarbeiter in speziellen Bereichen heute rar. Zu Personalengpässen kommen Veränderungen in der Praxis-IT, die heute jede Arztpraxis vor große Herausforderungen stellt. Seit 2011 bin ich in einem Team von Unternehmensberatern selbstständig als IT- und Organisationsberater. Dabei geht es oft um die Mediation zwischen den Anbietern von Medizingeräten, Praxissoftware und allgemeine IT-Dienstleistungen in den verschiedensten Themenfeldern. In diesen Feldern bringe ich mich bei Komplikationen gelegentlich bei den Hernern ein.

Unser Foto zeigt Dr. Bruckhaus-Walter und Claus Hanke (c) hernerhausaezte

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