Das Bild zeigt Heidi Büchner

„Inklusion funktioniert über ein gutes Schulklima und viele gute Lehrer“

Der Contergan-Skandal jährt sich in diesem Jahr zum 60. Mal. Nicht nur die Menschen mit Conterganschädigung, ihre Eltern und Familien, Freunde und Freundinnen waren und sind betroffen. Auch Menschen in deren Umfeld sind Zeitzeugen.

Heute erzählt Heidi Büchner, wie es damals war. Ausgang der 1960er Jahre war sie Grundschullehrerin an einer Mittelpunktschule und kam durch ihre damalige Schülerin unmittelbar mit dem Thema Contergan in Berührung. „Wir haben damals ohne großes Aufheben einfach alles möglich gemacht“, so die heute 76jährige Wahl-Berlinerin.

Heidi Büchner war gerade eine frisch examinierte Grundschullehrerin, als der damalige Rektor der Mittelpunktschule im hessischen Dautphetal sie beiseite nahm und fragte: „Haben Sie ein Problem damit, dass in Ihrer neuen Klasse eine Schülerin mit Conterganschädigung sitzen wird?“ Eher eine rhetorische Frage. Die junge Pädagogin war dem Schulleiter als engagiert und offen aufgefallen – Voraussetzungen für die Integration einer Schülerin mit Behinderung. Selbst, wenn es damals weder Inklusion hieß noch Pädagogen auf die speziellen Anforderungen vorbereitet worden waren.

 

Hessen vorn

„So war einfach unsere Grundhaltung damals“, erzählt Büchner heute. Eltern, Verwaltung, Schulleitung und Kollegium waren sich einig, dass nichts dagegenspräche, ein Kind mit verkürzten Armen und verstellten Händen am Unterricht teilnehmen zu lassen. Die Kleine selbst hatte zudem den Wunsch geäußert, bei ihren Freundinnen und Freunden bleiben zu können. Oft genug war sie wegen Operationen und Therapien längere Zeiten in Kliniken gewesen. „Insofern gab es ihr eine gewisse Stabilität, in ihrem sozialen Umfeld bleiben zu können“, sagt Büchner rückblickend.

Ihre früheste Erinnerung an die Erstklässlerin ist die „an eine richtige kleine Persönlichkeit. Sie guckte immer so frisch und auch ein bisschen frech in die Welt.“ Ein aufgewecktes, selbstbewusstes Kind, das sich fast alles zutraute und das dem Leben und seiner Umgebung trotz der körperlichen Beeinträchtigung zugewandt war. Probleme aufeinander zuzugehen gab es darum auf keiner der beiden Seiten.

Irgendwie passte alles gut zusammen: Ein soziales, dörfliches Umfeld, in dem die Schülerinnen und Schüler aufwuchsen. Kämpferische Eltern, die die jungen Contergan-Opfer unterstützten, wo es ging. Eine Lehrerin mit ihrer Offenheit. Und auch der Schulrektor war mit seiner menschlichen und antiautoritären Art ein beliebter Chef im Kollegium und bei den Eltern. Und in die Zeit passte es auch. Das Land Hessen verfolgte damals unter dem Slogan „Hessen vorn“ eine besonders progressive Schulpolitik. Büchner selbst hatte in Gießen den damals brandneuen Studiengang für Grund-, Haupt- und Realschullehrer/innen absolviert und mit dem ersten Staatsexamen abgeschlossen, bevor sie an die Mittelpunktschule kam.

 

Contergan als gesellschaftlicher Prüfstein

Vom Contergan-Skandal hatte die Lehrerin bereits gehört. „Das war ja damals schon ein paar Jahre her, dass es durch die Medien ging. Ich wusste, dass es viele Conterganopfer im ganzen Land gab. Als ich meine erste Grundschulklasse übernehmen sollte, waren die meisten betroffenen Kinder aber schon sieben oder acht Jahre alt. Nur Gunhild, die Schülerin mit Conterganschädigung, war 1968 erst sechs.“

Man kannte die Bilder und Berichte über Missbildungen an den Gliedmaßen. Diese Äußerlichkeiten waren das eine. „Was ich damals aber nicht wusste war, dass Viele auch Schädigungen an den inneren Organen hatten. So hatte Gunhild schon im Säuglings- und Kleinkindalter einige OPs und Reha-Aufenthalte hinter sich.“ Erst später sei ihr bewusst geworden, welche Last das Kind damals mit sich herumgetragen haben musste.

Durch den Conterganskandal ist damals eine neue gesellschaftliche Gruppe entstanden. Noch wenige Jahre zuvor hatte eine Behinderung das gesellschaftliche Aus bedeutet. In der noch jungen Bundesrepublik war eine körperliche Behinderung gleichbedeutend mit einer geistigen. Beides führte zu einer Stigmatisierung. Solche Menschen wurden vom gesellschaftlichen Leben ferngehalten. Mit dem Conterganskandal änderte sich das erstmals, man wollte Kinder mit Conterganschädigung integrieren. 

Was sagten also Schuldirektor, Kollegium und die Eltern dazu? „Eigentlich nichts“, sagt Heidi Büchner. „Man hat es möglich gemacht, es sprach ja nichts wirklich dagegen. Schon die Hürde der gesundheitlichen Eignungsuntersuchung im Vorfeld der Einschulung hatten die Eltern damals wohl genommen, nachdem die zuständigen Schulbehörden grundsätzlich zugestimmt hatten, was sicher einiges Durchsetzungsvermögen der Eltern erforderte. An der Schule selbst gab es keine Widerstände. Auch Schülerinnen und Schüler gingen mit dem Thema Behinderung recht locker um, erinnert sich Büchner. „Wenn man schon zusammen aufgewachsen ist, verbindet das. Es ist dann eine gewisse Normalität. Die hat halt kürzere Arme, na und, hieß es dann.“ Heidi Büchner jedenfalls kann sich an keine unschönen Zwischenfälle erinnern. Sie habe das soziale Lernen unterstützt, indem sie die anderen Kinder aufforderte, bei Bedarf zu helfen.

So ganz ohne Probleme kann es für ein Kind mit körperlicher Beeinträchtigung im Unterricht aber nun auch nicht gelaufen sein, denkt man. Doch auch hier winkt Büchner fast ab: „Alles, was mit aktiver Teilnahme am Unterricht zu tun hatte, war kein Problem. Auch Sport machte das Kind mit, bei gelegentlichen Abstrichen, wenn es um den Einsatz von Armen und Händen ging.“ Das Kind fand sich zurecht, traute sich im Grunde alles zu und versuchte allein zurecht zu kommen. Beim Schreiben allerdings, erzählt die frühere Lehrerin, musste man Zugeständnisse machen.

Mit dem Sitzen und der rechten Haltung am Tisch hatte sie ebenfalls ihre Probleme. Hier half der Hausmeister, der Gunhilds Pult passend umbaute. „Erfolge beim Schreiben ließen zunächst auf sich warten. Also bekam Gunhild die Zeit, die sie eben brauchte. Im Denken war sie schnell. Sie hat dann bald ihren eigenen Stil und eigene Methodik beim Schreiben entwickelt.“

 

Die Wege trennen sich

Nach ihrer Zeit als Grundschullehrerin in Dautphetal hat sie keine weiteren Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung unterrichtet. Nach der Geburt ihrer drei Kinder arbeitete sie 30 Jahre lang als VHS-Dozentin im 2.Bildungsweg an der VHS Hannover, wo sie junge Berufstätige Erwachsene auf einen Hochschulzugang ohne Reifeprüfung vorbereitete, und absolvierte noch ein Magisterstudium.

Ihre Erfahrungen mit Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben, hat sie auf einem anderen Gebiet erweitert. Als ehrenamtliche Kommunalpolitikerin arbeitete sie unter anderem daran, die Bewohner eines Heims der „Lebenshilfe“ mit der Bevölkerung in Kontakt zu bringen und stellte wieder fest, dass es ihr leichtfiel, offen und unbefangen auf diese Menschen zuzugehen.

„Im Grunde kann man den Beruf des Lehrers nicht wirklich erlernen“, ist sie überzeugt. „Man lernt Fachliches und Theorie. Alles wichtig. Aber, ob man ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin wird, liegt vor allem an der Einstellung, an der Haltung, die man zu Menschen hat.“

Heute lebt Büchner mit Ihrem Mann in Berlin. Vor wenigen Jahren meldete sich die Schülerin von damals: Gunhild Krämer-Kornja suchte den Kontakt zu ihr. „Es war bestimmt nicht so leicht mich zu finden. Unsere Wege hatten sich ja 1970 bereits wieder getrennt. Aber sie hat es geschafft, dem Internet sei Dank.“

 

Dörfliche Strukturen und der Zusammenhalt fehlen

Was ist für Sie das Spezielle an dieser Freundschaft? „Für mich war es etwas ganz Besonderes, dass nach all der Zeit so viel Freundlichkeit und Herzlichkeit auf mich zukam“, sagt sie. „Ich bin damals einfach weggegangen und hatte gar keine Ahnung, was ich an Positivem dort bewirkt hatte. Es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass man sich nach 40 Jahren wieder an seine Grundschullehrerin erinnert.“ Eine Bereicherung, findet Büchner, ist die wiederbelebte Freundschaft zu ihrer alten Schülerin in jedem Fall.

Von Seiten der Menschen mit Conterganschädigung hört man oft, damals sei das, was man heute Integration oder Inklusion nennt, viel einfacher gewesen, weil pragmatischer, sozialer und menschlicher. Das könne man so sagen, findet Heidi Büchner. Was müsste man aus ihrer Sicht heute anders machen? „Ich kenne den heutigen Inklusions-Unterricht nicht. Ich bin da seit langem raus“, sagt sie. „Es ist heute vieles anders, allein schon wegen der Verstädterung und der Mobilität, der Individualisierung.

Man hat diese dörflichen Strukturen nicht mehr, wie sie zu meiner Zeit als Grundschullehrerin herrschten. Sich als Familie, Nachbarn und Schule so intensiv um Andere zu kümmern ist in dieser Form viel seltener geworden. Bei allen vermeintlich passgenauen Schulformen und pädagogischen Angeboten für alle möglichen Bedarfe, sei allgemein das Gefühl für Solidarität und des Miteinanders verkümmert. Das Wir-Denken habe arg abgenommen. Die Pädagogin entschlossen: „Inklusion funktioniert allein über ein gutes soziales Klima sowie die Fähigkeiten und ausreichenden Möglichkeiten der Lehrkräfte. Nur wenn die gewährleistet sind, können auch Kinder mit schwerwiegenden Benachteiligungen in der normalen Regelschule lernen.“