Da Bild zeigt das Symposium der Conterganstiftung zum Thema 60 Jahre Conterganskandal

Nichts zu feiern – außer das Leben

Am 27. November 1961 wurde das Medikament Contergan vom Arzneimittelmarkt zurückgezogen. Anlässlich des 60. Jahrestages lud die Conterganstiftung am 22. November 2021 zu einem Symposium nach Köln ein. Dabei ging es weniger um einen „Blick zurück im Zorn“ (Dieter Hackler, Vorstand der Conterganstiftung), als um Gegenwart und Zukunft.

Betroffene und weitere ausgewiesene Experten diskutierten die Themen medizinische Versorgung, Beratung, Wohnen und Arzneimittelsicherheit. Auch Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker war der Einladung gefolgt und sprach einleitend zu den etwa 50 Gästen vor Ort. Die TV-Journalistin Susanne Wieseler moderierte (Interview mit ihr hier). 175 weitere Interessierte verfolgten die Veranstaltung per Live-Stream und brachten via Chatfunktion Fragen ein.

 

Geballtes Wissen und Erfahrung auf dem Podium

Gute Diskussionen und lebhafter Austausch brauchen Erfahrung und Expertise. Für die Betroffenen nahmen Udo Herterich (Vorsitzender des Bundesverbandes Contergangeschädigter e. V.) und Christian Stürmer (Vorsitzender Contergannetzwerk Deutschland e. V. und ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der Conterganstiftung) sowie Margit Hudelmaier (Landesverband Contergangeschädigter Baden-Württemberg e.V. und Mitglied des Stiftungsvorstands) und Claudia Schmidt-Herterich (Sprecherin der Internationalen Thalidomid/Contergan Allianz ICTA) teil. Außerdem saß der Vorstandsvorsitzende der Conterganstiftung Dieter Hackler auf dem Podium. Ebenso Heinz-Günter Dickel (ebenfalls Mitglied des Stiftungsvorstands).

Auf Seiten der Experten begrüßte Moderatorin Susanne Wieseler Prof. Dr. Andreas Kruse vom Gerontologischen Institut der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Werner Knöss (Vize-Präsident des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte) sowie Prof. Dr. Klaus Peters, Orthopädischer Chefarzt der Dr. Becker Rhein-Sieg Klinik Nümbrecht.  

Konsens war unter allen Beteiligten schnell in einem Punkt gefunden: Ungeachtet der positiven Veränderungen der letzten Jahre ist es eine wichtige und zentrale Aufgabe, die Zukunft der Betroffenen im letzten Lebensabschnitt angemessen zu gestalten. Dazu müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten. Die Diskussion zeigte, dass dazu sowohl die Bereitschaft besteht als auch konkrete Ideen existieren.

 

Hackler und Reker würdigen Engagement und Vorreiterrolle der Geschädigten

Zu Beginn warf der Vorsitzende der Conterganstiftung Dieter Hackler einen Blick zurück auf den Conterganskandal vor 60 Jahren. Das Mittel Contergan sei eine Katastrophe gewesen und habe Leid und Schmerz über die Geschädigten und deren Familien gebracht. Mit Nachwirkungen bis heute - gesellschaftlich und ganz persönlich. Jetzt gehe es aber um die Organisation des nächsten Lebensabschnitts, sagte Hackler und verwies auf die bevorstehenden Aufgaben in der medizinischen Versorgung, in der Beratung und auch beim Wohnen, denen sich das Symposium widmen werde. Die Stiftung stünde dabei fest an der Seite der Betroffenen und deren Verbänden als Interessenvertretung und Lobbyist gegenüber Gesellschaft und Politik.

Oberbürgermeisterin Henriette Reker verwies in ihrem Grußwort darauf, dass die Betroffenen und deren Eltern in vielen Bereichen Vorreiter und Pioniere gewesen sind. „Sie ringen um Selbstbestimmung, um Anerkennung, um finanzielle Absicherung. Und nach meinem Eindruck hat es eine aufrichtige Bitte um Entschuldigung bis heute (Stand 22. November 2021, d. Red.) nicht gegeben.“

 

Conterganskandal als Initialzündung

Prof. Dr. Knöss, dessen Bundesinstitut letztlich, wenn auch über Umwege, aufgrund der Erfahrungen mit dem Conterganskandal ins Leben gerufen wurde, betont die Wichtigkeit des Arzneimittelgesetzes und der strengen Zulassungsverfahren. Den Conterganskandal müsse man als Initialzündung für diese Entwicklung sehen.

Christian Stürmer mochte an dieser Stelle zwar „nicht im Zorn zurückschauen“. Seiner Meinung nach könne allerdings nicht die Rede davon sein, dass man sich in den 1950ern juristisch in einem „luftleeren Raum“ befunden habe. So habe in Nordamerika etwa die FDA Contergan die Zulassung verweigert. Eine solche oder vergleichbare Kontrollinstanz hat es im Deutschland der 1950er nicht gegeben. Nach Meinung des Betroffenenvertreters sei die deutsche Regierung damals vor Pharmaunternehmen wie Grünenthal „eingeknickt, weil deren Interessen wichtiger gewesen seien als die Gesundheit der Bevölkerung“. Er lege Wert darauf, das zu erwähnen, so Stürmer.

 

Der Blick nach vorne:
Heterogenität der Krankheitsbilder im Fokus bei Beratung, Pflege und Wohnen

Konsens herrschte in dem Punkt, dass es vornehmliches Ziel sei, angesichts von Folgeerkrankungen und Schmerzen, ein schmerzfreies Leben und einen annehmbaren Lebensabend führen zu können. Udo Herterich verwies darauf, dass man mit den Grunderkrankungen im Laufe der Jahre klargekommen sei. „Nun geht es darum, in Würde weiterzuleben. Ein selbstbestimmtes Leben für möglichst alle wäre mein großer Traum.“

„Die Heterogenität der Krankheitsbilder muss bei Menschen mit Conterganschädigung noch viel stärker akzentuiert werden“, betonte Prof. Kruse, Autor der so genannten „Heidelberger Studie“. Das beträfe Diagnostik, Therapie und Pflege in gleicher Weise. Das „Prinzip der maximalen Individualisierung“ müsse für Ärztinnen und Ärzte wie für alle medizinischen Berufe Basis von allem sein.

Des Weiteren müsse man erweiterte Konzepte der Rehabilitation entwickeln, die den hochkomplexen Schädigungsbildern der Klienten „mit ihrer Vulnerabilität und Resilienz gleichermaßen gerecht werden“. Das dritte Feld, in dem sich viel tun müsse, sei die Schmerztherapie. Und dies alles eingebettet in eine Wohn- und Sozialumwelt, die lebens- und menschenwürdig ist. „Das ist Medizin pur. So stellt sich Medizin Medizin vor. Vielleicht werden Contergangeschädigte hier erneut Maßstäbe setzen“, vermutete Kruse.

Professor Peters bestätigte, es gehe um spezifisch-individuelle Lösungen für eine relativ kleine Gruppe Betroffener. Und dies auf Basis speziell gesammelten Wissens durch wenige Mediziner und der geschädigten Menschen. Letztere bräuchten daher Ansprechpartner, die sowohl genügend über die Ursprungserkrankungen als auch die sehr individuellen Folge- und Alterserkrankungen wüssten. In Zukunft gehe es daher auch um Schulungen, um eine Vor-Ort-Betreuung zu gewährleisten.  

 

Gewonnenes Wissen darf nicht verloren gehen

Die einhellige Meinung war, dass für eine umfassende praktische Beratung Modelle wie das Peer-to-Peer Projekt des Landesverbands NRW vorbildlich und nachahmenswert sind. Hier können Betroffene das „Expertenwissen“ der Geschädigten sammeln und vor allem in den Dienst einer Gemeinschaft stellen. Das betrifft Erfahrungen am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld und natürlich auch im medizinischen Bereich. Claudia Schmidt-Herterich betonte: Das ganze Wissen müsse der medizinischen Kommission zugänglich gemacht werden und appellierte dabei an die Conterganstiftung, die vernetzend als „Coach“ fungieren könnte. Es sei zudem keine Zeit mehr zu verlieren.

„Die Selbstbestimmung hört nicht bei der Pflege auf“, sagte Herterich. „Der Wunsch nach Selbstbestimmung bleibt auch im Alter bestehen, ich gebe den nicht an der Tür zum Pflegeheim ab.“ Hier könnten Menschen mit Conterganschädigung wieder einmal Pionierarbeit leisten.

 

Der Ausblick: Tendenz positiv

Zu feiern gab es angesichts des traurigen „Jubiläums“ eigentlich nichts. Nichtsdestotrotz betonten die Betroffenen: Wir leben noch und wir wollen in Würde weiterleben! Die Menschen mit Conterganschädigung, deren Angehörige, die Stiftung, Verbände und Interessenvertretungen, Medizinerinnen und Mediziner sowie alle Beteiligten gehen ihren Weg weiter in die Zukunft. Dies, so ein Resümee des Symposiums, soll ein weitestgehend gemeinsamer Weg sein.

Erfreulich: Die Veranstaltung brachte einen Schulterschluss zwischen dem Bundesverband Contergangeschädigter e. V. und dem Contergannetzwerk Deutschland e. V.. Beide Vertreter – Herterich und Stürmer – äußerten sich positiv zu den Entwicklungen in der Zusammenarbeit mit der Stiftung in den letzten Jahren.

Als Fazit soll der Ideenaustausch vertieft werden und bei der Umsetzung mehr Gemeinsames als Trennendes die zentrale Rolle spielen. Die Betroffenen und ihre Vertretungen können weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Pflege-, Wohn- oder Hilfsmittelkonzepten spielen und sind bereit, sich hier Gehör zu verschaffen. Von der Conterganstiftung erwartet man eine Mittlerfunktion.

Margit Hudelmaier nutzte ihr Schlusswort, um an Mut und Entschlossenheit sowie die Bereitschaft zum Konsens der Betroffenen zu appellieren.

Bereits im kommenden Jahr feiert die Conterganstiftung ihr 50-jähriges Bestehen. Im Zuge dessen soll es dann weitere Zusammenkünfte und Gelegenheit zum Austausch geben. 

 

Links

Rede des Vorstandsvorsitzenden der Conterganstiftung, Dieter Hackler, zur Eröffnung des Symposiums der Conterganstiftung am 22.11.2021 im Dorint Hotel Köln

Rede des Vorstandsmitgliedes der Conterganstiftung, Margit Hudelmaier zum Abschluss des Symposiums der Conterganstiftung am 22.11.2021 im Dorint Hotel Köln

Videaufnahme des Symposiums
 

 

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