Das Bild zeigt eine Wortwolke über die Leistungen im Beratungsbereich der Conterganstiftung

Steigende Frequenz und breites Themenspektrum

Mit der Novellierung des Conterganstiftungsgesetzes im Jahr 2017 wurde ein Beratungsbereich als neue Serviceleistung der Stiftung etabliert. CIP zieht Bilanz, beleuchtet die Arbeit und diskutiert über Aufgaben und Grenzen der Beratung. Dazu hat CIP Mitarbeitende des Beratungsbereichs, der von Katja Held geleitet wird, befragt.

 

Frau Held, Sie leiten den Beratungsbereich der Conterganstiftung für behinderte Menschen. Was sind die zentralen Aufgaben?

Katja Held: Unser Bereich hat zwei zentrale Aufgaben. Das „Herzstück“ des Aufgabenportfolios bildet das Beratungsangebot: Menschen mit Conterganschädigung erhalten - laut gesetzlicher Vorgabe - eine Beratung zu sozialrechtlichen Fragestellungen, die im Zusammenhang mit dem Erhalt von Stiftungsleistungen stehen. Dabei ist das Team des Beratungsbereichs auch direkter Ansprechpartner bei individuellen Fragen und unterstützt die Betroffenen bei der Beantwortung dieser im Rahmen seiner rechtlichen Grenzen. Damit deckt das aktuelle Beratungsangebot bereits sämtliche Fragestellungen zum Sozialrecht ab - außer die zur gesetzlichen Rente und Betreuung. Darüber hinaus ist der Beratungsbereich auch für den Aufbau und die Förderung multidisziplinärer medizinischer Kompetenzzentren zuständig.


Wie viele Menschen nehmen Ihr Beratungsangebot in Anspruch?

Daniel Eichmüller: Seit dem Start des Beratungsangebotes 2017 ist die Anzahl eingehender Anfragen kontinuierlich gestiegen. Stand Dezember 2020 haben wir insgesamt 1.334 Beratungsanliegen beantwortet. Im Durchschnitt kommen pro Monat 28 Betroffene mit 32 Beratungsanliegen auf uns zu. Zumeist erreichen uns diese Anfragen per Telefon - aber auch per E-Mail und per Post. Das persönliche Beratungsgespräch erfolgt meistens auf Mitgliederversammlungen und Stiftungsratssitzungen.

Katja Held: Im gleichen Maße wie die Anfragenfrequenz nimmt auch die Themenvielfalt zu. Mittlerweile berät der Beratungsbereich zu 31 Beratungsschwerpunkten (Grafik der Beratungsschwerpunkte hier abrufbar), die 55 verschiedene Beratungsthemen umfassen, wie beispielsweise zu Anliegen aus den Themen Schwerbehinderung, Krankenversicherung, Mobilität, Pflege, Rehabilitation und Recht - um nur einige zu nennen.

Daniel Eichmüller: Das stimmt. Und damit einhergehend nimmt auch die Komplexität der Anfragen zu. Das bedeutet, dass Betroffene nicht selten verschiedenste Fragestellungen zu einem Thema haben. Die Beantwortung erfordert oftmals eine tiefergehende und umfangreiche Recherche oder rechtliche Prüfung. In solchen Fällen beantworten wir telefonisch eingehende Beratungsanfragen auch schriftlich. So haben die Betroffenen die Möglichkeit, Beratungsergebnisse in Ruhe nachzuvollziehen. Je nach Anliegen kann das Schreiben auch unterstützend beim jeweiligen Kostenträger vorgelegt werden.


Ursprünglich war eine solche Beratungsleistung in den Aufgaben der Stiftung nicht vorgesehen. Wie kam es zur Erweiterung des Leistungsportfolios?

Mirja Phull: Im Dezember 2016 hat der Deutsche Bundestag das Vierte Änderungsgesetz zum Conterganstiftungsgesetz (ContStifG) beschlossen, das im Februar 2017 rückwirkend zum Januar in Kraft getreten ist. Mit Inkrafttreten wurde die individuelle Bedarfsbeantragung der spezifischen Bedarfe eingestellt und durch eine Gewährung pauschaler Leistungen ersetzt. Gleichzeitig war es der gesetzgeberische Wille, die frei werdenden Verwaltungskapazitäten für die Beratung und Unterstützung der Betroffenen zu nutzen, wenngleich die nähere inhaltliche Ausgestaltung offenblieb. Die Conterganstiftung hat sodann - auf Basis der rechtlichen, personellen, sachlichen und finanziellen Grenzen - die Konzeptionierung des Beratungsangebots übernommen. Dies war sozusagen die Geburtsstunde des Beratungsangebots. Die Beratung gehört seitdem zum Leistungsangebot der Conterganstiftung.


Der jüngste Evaluationsbericht* brachte neue Erkenntnisse zu den Beratungsbedarfen der contergangeschädigten Menschen. Welche sind das und wie stehen Sie dazu?

Lena Kringels: Besonders hervorgehoben wurde der Wunsch der Betroffenen nach einer individuellen Unterstützung und Hilfestellung. Durch die individuellere Beratungs- und Lotsenfunktion soll die Unterstützung der Betroffenen in unterschiedlichen persönlichen Lebenslagen vereinfacht werden. Auch im Hinblick auf die Herausforderungen des Älterwerdens ist ein Autonomie-, Teilhabe- und ein die Lebensqualität förderndes Konzept gewünscht, das auch Themen der medizinischen, rehabilitativen und pflegerischen Versorgung aufgreift. Die Erweiterung des Angebots hinsichtlich einer psychologischen und psychotherapeutischen Erstberatung und Vermittlung von Hilfsangeboten, ist eine weitere Handlungsempfehlung des Berichts, deren konkrete Ausgestaltung jedoch abermals offenblieb.

Katja Held: Durch die anvisierte Verankerung der allgemeinen Beratungspflicht im ContStifG wird die rechtliche Grundlage für eine individualisierte Beratung geschaffen. Diese erhält jedoch - und darauf muss man hinweisen - Grenzen. Denn die individualisierte Beratung soll zum einen nach wie vor im Rahmen der vom Haushaltsgesetzgeber zur Verfügung gestellten Mittel erfolgen. Zum anderen soll die Stiftung gerade nicht die Aufgabe einer individuellen Rechtsberatung im konkreten Einzelfall übernehmen. Der bedeutendste Unterschied liegt darin, dass die Stiftung mit der gesetzlichen Verankerung - sollte diese in Kraft treten -  zukünftig zur allgemeinen Beratung der Betroffenen verpflichtet wäre und nicht „nur“ Auskünfte zu Themen oder Fragestellungen geben darf, die im Zusammenhang mit Leistungsansprüchen der Stiftung stehen.

Katja Held: Damit entspräche das anvisierte „stärker individualisierte“ Beratungsangebot weitestgehend der zugunsten der Betroffenen bereits gelebten Praxis. Denn durch das bestehende Beratungsangebot erhalten Betroffene Informationen zu weiterführenden Ansprechpartnern, umfangreiche Lösungsansätze in Bezug auf konkrete Fallschilderungen sowie Formulierungshilfen für die praktische Durchsetzung ihrer konkreten Anliegen.

Claudia Ewalds: Ein derartiges Beratungsangebot würde wesentlich mehr zeitliche Ressourcen benötigen. Denn die oder der Berater muss sich auf die individuellen Problemlagen einlassen. Gleichzeitig muss der Raum bestehen, dass die Betroffenen eine Vertrauensbasis aufbauen. Ohne ein gewisses Maß an Vertrauen ist es in einer Beratungsbeziehung immer schwierig an ein gemeinsames Ziel zu kommen, denn die Betroffenen teilen unter Umständen sehr persönliche Informationen mit dem Beratungsteam.

Katja Held: In diesem Zusammenhang muss man auf das Thema „Kosten“ hinweisen. Denn die Bundesregierung empfiehlt zur Finanzierung einer umfassenden Beratung lediglich die - bei bisherigen stiftungsseitigen Anfragen zu Finanzierungen in anderen Bereichen erfolglos gebliebene - Einwerbung von Mitteln bei der Firma Grünenthal GmbH. Der Haushaltsgesetzgeber selbst stellt keine weiteren Mittel zur Verfügung. Selbst wenn die Betroffenen somit zukünftig bereit wären, dem Beratungsteam notwendige Informationen zu individuellen Gegebenheiten herauszugeben, so könnte dem Haftungsrisiko der Conterganstiftung aus Kostengründen nicht mit einer erweiterten personellen Ausstattung entgegengewirkt werden.

Lena Kringels: Um die Aufgaben noch umfangreicher wahrzunehmen, ist es daher sinnvoll, externe Träger hinzuzuziehen, um eine überregionale Präsenz der Beratung für die Betroffenen zu erreichen. Hierzu müsste man entsprechende Netzwerke aufbauen, die gepflegt und ständig erweitert werden müssen.


Wie und wann werden die Forderungen aus dem Evaluierungsbericht umgesetzt?

Daniel Eichmüller: Eine Umsetzung der Forderungen geht letztlich mit einer Änderung des ContStifG einher, denn dieses ist immer die Grundlage unseres Handelns. Ob eine solche in dieser Legislaturperiode noch umgesetzt wird, haben Parlament und Bundesregierung zu entscheiden.

 

Die Beratung von Menschen mit Conterganschädigung erfordert u.a. fundiertes Fachwissen und Empathie. Welchen Ausbildungshintergrund haben die Mitarbeitenden im Beratungsbereich? Absolvieren die Mitarbeitenden Fortbildungen?

Katja Held: Das ist richtig. Fachexpertise und Empathie sind für die Beratung der Betroffenen unerlässlich. Der Ausbildungshintergrund der Mitarbeitenden ist vielschichtig. Neben Volljuristen umfasst das Team auch Personen aus dem Bereich der „Sozialen Arbeit“, teilweise mit dem Schwerpunkt „Beratung und Vertretung im Sozialen Recht“ sowie einen Betriebs- und Versicherungsfachwirt mit der Spezialisierung im Bereich Gesundheits- und Sozialmanagement.

Claudia Ewalds: Die Teilnahme an sozialrechtlichen Fortbildungen ist elementar, um auf diesem schnelllebigen Rechtsgebiet aktuell zu bleiben. Seit dem Start des Beratungsangebots hat der Beratungsbereich an insgesamt 13 Fortbildungen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts und an sieben Fortbildungen zum Schwerbehindertenrecht teilgenommen. Darüber hinaus lässt sich der Bereich auch auf den Gebieten Kommunikation und Wissensmanagement schulen. Denn dieses Know-how ermöglicht es uns, das interne Wissensmanagementsystem gezielt auszuweiten und zu pflegen.

Mirja Phull: Der Forderung einer psychologischen und psychotherapeutischen Erstberatung in Form einer Lotsentätigkeit durch den Beratungsbereich begegnen wir bereits mit einer Schulung zum Thema „Psychische Erkrankungen“, die im Januar 2021 stattfinden soll. Sollte es in Bezug auf diesen Punkt tatsächlich zu einer Gesetzesänderung kommen, sind wir bereits auf einem guten Weg. Denn wir lernen dort Erscheinungsformen psychischer Erkrankungen kennen und werden darauf sensibilisiert, wie sich derartige Erkrankungen in einer Beratungssituation auswirken können. Mit diesem Wissen ist natürlich keine psychologische und psychotherapeutische Erstberatung möglich, jedoch eine Vermittlung an die richtigen Stellen. Weitere Fortbildungen zu diesem Themenkomplex sind geplant.


Im Februar 2021 wird der Beratungsbereich an einer Verbandsveranstaltung in Hamburg teilnehmen. Was ist Ihre Agenda für dieses Treffen?

Daniel Eichmüller:  Wir freuen uns, dass wir auf Veranstaltungen der Betroffenen zu Gast sein dürfen. Der direkte persönliche Austausch ist uns sehr wichtig, denn er fördert conterganspezifische Beratungsbedarfe zu Tage und bietet natürlich Gelegenheit, sich kennenzulernen. In den vergangenen drei Jahren waren wir auf insgesamt 17 Veranstaltungen präsent (Grafik der Veranstalter hier abrufbar). In Hamburg bei der Mitgliederversammlung des Hilfswerks für Contergangeschädigte e.V. darf der Beratungsbereich nun schon zum dritten Mal dabei sein - dafür einen herzlichen Dank an den Vorsitzenden Gernot Stracke.

Lena Kringels: In Hamburg werden wir über die Entwicklungen im Beratungsbereich berichten. Das heißt: Was sind die aktuellen Schwerpunkte der Beratung? Wie erhalten und erweitern wir unser Wissen? Welche Ziele verfolgen wir in Zukunft?

Daniel Eichmüller: Darüber hinaus informieren wir über den aktuellen Sachstand in Bezug auf das Förderverfahren multidisziplinärer medizinischer Kompetenzzentren. Vor allem interessant dürften für die Betroffenen die medizinischen Einrichtungen sein, die am Interessenbekundungsverfahren teilnehmen und zukünftig die medizinische Versorgung und Behandlung von Menschen mit Conterganschädigung sicherstellen wollen. Wie gewohnt stehen wir den Anwesenden im Anschluss an unsere Präsentation für Fragen zur Verfügung.


Frau Held, wir stehen kurz vor dem Jahreswechsel: Was sind Ihre drei Wünsche für das Jahr 2021?

Katja Held: Erstens wünsche ich mir, dass die Corona-Pandemie eingedämmt wird und unser Bereich wieder verstärkt persönliche Präsenz in den Regionen zeigen kann. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn das Beratungsangebot weiterhin eine steigende Akzeptanz erfährt und wir seitens der Betroffenen im Ausbau der Themen gefordert werden. Zum guten Schluss freue ich mich auf den erfolgreichen Aufbau multidisziplinärer medizinischer Kompetenzzentren.

 

*) Das Interview hierzu mit dem Vorsitzenden der Conterganstiftung, Dieter Hackler, sowie den Evaluationsbericht finden sie hier.