Das Bild zeigt Alexander Niecke während eines Vortrages

„Wichtig ist, dass man neugierig bleibt“

Menschen mit Conterganschädigung haben einen doppelt so hohen Bedarf an psychologischer Hilfe als der altersgleiche Durchschnitt der Bevölkerung. Gleichzeitig nimmt nur jede sechste Person aus dem Kreis der Menschen mit Conterganschädigung eine solche Hilfe in Anspruch – wiederum deutlich weniger als in der Restbevölkerung. Dem wachsenden Bedarf an psychologischer Betreuung begegnet die Psychotherapeutische Contergan-Sprechstunde am Uniklinikum Köln. Wir haben mit Dr. Alexander Niecke, Personaloberarzt und Stellvertreter des Klinikleiters, über das Angebot gesprochen.

 

Herr Dr. Niecke, in Ihrer Klinik bieten Sie eine psychotherapeutische Sprechstunde speziell für Menschen mit Conterganschädigung an. Wie kam es zu diesem speziellen Angebot?  

Wir haben im Auftrag des Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen zwischen 2011 und 2013 die sogenannte NRW-Conterganstudie durchgeführt. Darin wurden knapp 200 Betroffene unter anderem mit einem methodisch aufwendigen diagnostischen Interview auf das Vorliegen möglicher psychischer Störungen untersucht. Hauptergebnis der Studie war, dass fast die Hälfte der Betroffenen klinisch relevante psychische Belastungen angegeben hatte. Das ist ein Befund, der etwa doppelt so hoch ist, wie in der altersgleichen deutschen Allgemeinbevölkerung.

Ein zweites wichtiges Ergebnis war, dass nur jeder sechste Geschädigte mit einer aktuell vorliegenden psychischen Störung im Jahr vor der Untersuchung auch eine entsprechende Beratung in Anspruch genommen hatte – wiederum nur halb so häufig, wie dies psychisch Erkrankte in der Allgemeinbevölkerung tun. Beide Studienergebnisse zusammen, also ein hohes Vorkommen gesundheitsbeeinträchtigender psychischer Störungen und dazu eine niedrige Inanspruchnahme von Psychotherapie, weisen auf einen ungedeckten Versorgungsbedarf sowie Barrieren im Zugang zum Versorgungssystem hin.

 

Sie sahen also akuten Handlungsbedarf?

Definitiv. Als Konsequenz aus diesen Studienergebnissen haben wir in der psychosomatischen Abteilung der Uniklinik Köln daher beschlossen, eine ambulante Sprechstunde speziell für Contergangeschädigte anzubieten. Diese steht aber auch für Angehörige offen. Wir bieten ein niedrigschwelliges Beratungsangebot an und können in akuten Krisensituationen auch Patientinnen und Patienten auf unserer Psychotherapiestation aufnehmen.

 

Warum diese Spezialisierung?

Was die psychotherapeutische Behandlung selbst angeht, braucht es eigentlich keine Spezialisierung. Grundsätzlich haben Menschen mit oder ohne Behinderungen das gleiche Spektrum an Bedürfnissen, Gefühlen und Konflikten – aber unter Belastung eben auch an psychischen Beschwerden. Eine psychische Störung ist eine physiologische Reaktion auf sich anhäufende lebensgeschichtliche Belastungen bei nachlassenden kompensierenden Bewältigungsmechanismen.

 

Lapidar gesagt, es staut sich immer mehr an?

Ja, das kann man sagen. Wird dabei ein kritischer Schwellenwert überschritten, kommt es zu Symptomen.Psychische Störungen bei Conterganbetroffenen sind also nicht prinzipiell anders, aber eben sehr häufig anzutreffen. Die Spezialisierung meint also weniger eine spezielle Behandlungstechnik als vielmehr einen speziellen Ort, an den sich Betroffene wenden können, an dem sie willkommen sind.

 

Wenn das psychische Leiden und die Symptome eher ähnlich sind, gibt es bei Menschen mit Conterganschädigung denn besondere Anforderungen in der Therapie?

Besondere Anforderungen gibt es vor allem bei Betroffenen mit höhergradiger Schwerhörigkeit, da hier spezielle kommunikative Fertigkeiten notwendig sind. Auch wenn wir Gespräche mit Unterstützung von Gebärdensprachdolmetschern durchführen können, haben wir diese Herausforderungen bedauerlicherweise bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst. Wir wünschen uns für die Zukunft in unserem Team noch einen Psychotherapeuten oder eine Psychotherapeutin mit Gebärdensprachkompetenz.

 

Mit welchen Problemen kommen die Betroffenen zu Ihnen? Sind Themenschwerpunkte zu erkennen? Gibt es „typische Fälle“, die immer wiederkehren?

Die Betroffenen kommen mit ihren ganz persönlichen biografischen Lebenserfahrungen und sehr individuellen Problemen zu uns. Es geht unter anderem um die Wahrnehmung des eigenen Körpers in einem Leben mit Behinderung oder die Bewältigung von aufgetretenen Erkrankungen. Es geht auch um Beziehungen zu wichtigen Personen, sei es in der Familie, der Partnerschaft oder im Beruf.

Ein weiterer Punkt ist die Auseinandersetzung mit Einsamkeit. Und es geht um die grundlegenden Bedürfnisse nach Sicherheit, Verbundenheit, Anerkennung und Autonomie. Insbesondere das Alter mit seinem zentralen Thema des Abschieds spielt mittlerweile und zunehmend eine größere Rolle.

 

Welche Methoden kommen zur Anwendung, um den Betroffenen zu helfen?

Eine psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit Behinderung ist, wie gesagt, grundsätzlich keine andere als bei Menschen ohne Behinderung. Wie bei Körperkrankheiten, beispielsweise einer koronaren Herzerkrankung, einem Asthma bronchiale oder einem Diabetes mellitus, orientiert sich die Behandlung an klinischen Fachstandards und wissenschaftlich fundierten Leitlinien. So ist das auch in der Behandlung von psychischen Störungen. Im Zentrum steht hier das Gespräch. Letztlich geht es in der Psychotherapie darum, dass man sich selbst besser versteht und dass man seine Beziehung zu sich selbst und anderen besser regulieren kann.

 

Worauf muss man als Psychotherapeut besonders achten?

Ein zentrales Anliegen ist, dass er oder sie neugierig bleibt. Aber eben auch, dass er oder sie sich der eigenen Verletzbarkeit bewusst ist.

 

Gibt es kooperative oder ganzheitliche Behandlungsansätze, bei denen auch die körperlichen Schädigungen durch Contergan einbezogen werden?

Die psychosomatische Medizin ist per se ein ganzheitlicher Ansatz, bei dem biologische, psychologische und soziale Perspektiven in der Behandlung berücksichtigt werden. Aber ja, wir haben eine enge Kooperation mit dem Kompetenzzentrum in Nümbrecht und können auch andere Fachabteilungen innerhalb der Uniklinik Köln konsultieren und hinzuziehen.

 

Wie viele Betroffene nutzen das Angebot?

Wir haben etwa zehn Erstkontakte pro Jahr in unserer Sprechstunde. Das sind vor allem diejenigen, die im Großraum Köln wohnen oder in Nümbrecht eine ambulante Rehabilitation durchführen. Und bei denen oft auch schon eine gewisse Psychotherapie-Motivation vorliegt. Einige Wenige haben wir in den vergangenen sechs Jahren auch auf unserer Psychotherapiestation behandelt.

 

Steht Ihr Leistungsangebot grundsätzlich auch Betroffenen außerhalb von NRW zur Verfügung?

Ja, das Angebot gilt deutschlandweit.

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