Die Grafik zeigt Dr. Almut Satrapa-Schill

„Wir arbeiten nicht für die Schublade“

Die von der Conterganstiftung ins Leben gerufene Expertinnen- und Expertenkommission hat 2023 ihre Arbeit aufgenommen. Sie hat die Aufgabe, Vorschläge und Ideen für die Verbesserung der Lebenssituationen von Menschen mit Conterganschädigung im Alter zusammenzutragen und zu erarbeiten. Als Expertin wirkt Dr. Almut Satrapa-Schill in der Arbeitsgruppe “gesundheitliche Versorgung“ mit. Neben „Wohnen im Alter“ und „psychosoziale Begleitung“ einer der drei Kernbereiche, mit denen sich die Kommission befasst. Wir haben mit Satrapa-Schill über ihre Arbeit in der Kommission gesprochen.

 

Frau Satrapa-Schill, wie ist Ihre Beteiligung in der Kommission zustande gekommen?

 

Die Conterganstiftung hat angefragt, ob ich bereit wäre, an der neu eingesetzten Kommission mitzuwirken. Ohne lange zu zögern, habe ich zugesagt.

Ich engagiere mich für Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Gesundheitsversorgung und gebe gerne das zurück, was ich während meiner Berufstätigkeit erfahren und erlernen durfte. Es war deshalb keine Frage, mich auch für Menschen mit Conterganschädigung einzusetzen, für die auf Grund ihres Älterwerdens sich neue Fragen stellen und Probleme entstehen: Wo werde ich für den Rest meines Lebens wohnen und wie betreut? Welche altersbedingten Beeinträchtigungen und Krankheiten kommen zu der ohnehin vorhandenen Schädigung noch dazu?

Antworten auf diese Fragen zu finden, hat mich zur Mitwirkung motiviert. Zudem gehe ich davon aus, dass die Empfehlungen auch Menschen mit anderen Behinderungen zugutekommen.

 

Ihr Fokus liegt auf der gesundheitlichen Versorgung. Worin besteht Ihre konkrete Expertise, wie bringen Sie diese mit ein?

 

Während meiner langjährigen Tätigkeit in der Robert Bosch Stiftung habe ich mich mit sozialen Fragen, dem Bildungswesen und umfassend mit den stationären, ambulanten und häuslichen Strukturen der Gesundheitsversorgung von der Prävention bis zur Sterbebegleitung befasst. Beschäftigt haben mich auch die Auswirkungen, der sich rasch verändernden und älterwerdenden Gesellschaft auf die künftige Gesundheitsversorgung, insbesondere auch in ländlichen Regionen. Eine besondere Rolle spielten in meinem Arbeitsbereich Alterserkrankungen, die bei der Versorgung alter Menschen mit Conterganschädigung ebenfalls eine Rolle spielen werden.

 

Für Sie gehört zur Gesundheitsversorgung also weit mehr als nur die rein medizinische Absicherung?

 

Absolut. Ohne Gesundheit keine funktionierende Gesellschaft, und umgekehrt beeinflussen der Zustand der Gesellschaft und die Lebensbedingungen die Gesundheit. Schlechte Wohnbedingungen machen krank und erschweren die Pflege. Einsamkeit führt zu Depressionen, Immobilität zu Krankheit. Nicht umsonst beschäftigt sich die Expertenkommission auch mit den Themen Wohnen und der psychosozialen Begleitung. Es reicht also bei weitem nicht, sich nur mit der medizinischen Absicherung zu befassen.

Die große Klammer ist die Organisation eines würdigen Lebens von Menschen mit Conterganschädigung im Alter. Auch müssen wir begreifen, dass für das Wohlbefinden und für die individuelle gesundheitliche Versorgung unterschiedliche Professionen und Gesundheitsberufe zusammenwirken müssen.  Die medizinische Behandlung allein ist es nicht. Neben Ärzten sind Pflegekräfte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Ernährungsberater, Städteplaner, IT-Spezialisten u.a. Garanten für eine erfolgreiche Gesundheitsversorgung.

 

Der Ansatz der Expertinnen- und Expertenkommission ist, dass man mehr vom Menschen her denkt?

 

Das ist richtig. Leider sind wir es hierzulande gewohnt, von den Strukturen, von den Anbietern von Gesundheitsleistungen und von den Kosten und deren Finanzierung her zu denken. Wir gehen nicht in erster Linie von den Bedürfnissen der Menschen und Patienten aus.

Auch denken wir zu wenig über die Zukunft der Gesundheitsberufe und der Berufsangehörigen nach, die die Gesundheitsversorgung gewährleisten. Lange vor dem dramatischen Arbeits- und Fachkräftemangel hätte man sich mit den Gesundheitsberufen, deren Aufgabengebiete, den sich verändernden Berufsbildern und Qualifizierungsanforderungen befassen sollen. Es besteht dringender Nachholbedarf an zukunftsgerichteten, der Komplexität gerecht werdenden Entscheidungen.

 

Wie kann dieser multithematische, interdisziplinäre Ansatz in die Arbeit der Kommission eingehen?

 

Die Mitglieder der Kommission vertreten unterschiedliche Professionen. Sie arbeiten disziplinübergreifend und vernetzen ihre Expertise in den drei Arbeitsgruppen. Sie sind auf Grund unterschiedlicher Expertisen berufen worden, so dass Empfehlungen erwartet werden können, die der erforderlichen Komplexität gerecht werden. Wichtig ist, dass in die Kommission auch Menschen mit Conterganschädigung berufen wurden. Sie werden dazu beitragen, dass auf Grund ihrer Erfahrungen und ihres Wissens die Kommission zu tragfähigen Empfehlungen kommt.

 

Zuhause alt werden wird aber wohl nicht allen vergönnt sein…

 

Sicher nicht. Unter Umständen ist die stationäre Unterbringung in einer Altenpflegeeinrichtung die Wahl, die man treffen muss. Deshalb müssen sich Einrichtungen darauf einstellen und der Zielgruppe gemäß spezifische Angebote vorhalten. Der dafür notwendigen Qualifikation der Gesundheitsberufe und der Assistenzkräfte kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie müssen auf die Versorgung Menschen mit Conterganschädigung im Alter vorbereitet und dafür qualifiziert werden. Sie müssen zudem lernen, teamorientiert zu arbeiten, so dass auch bei stationärer Unterbringung Lebensqualität gewährleistet werden kann.

 

Die Kommission hat die Zielvorgabe, Handlungsempfehlungen zu formulieren. Gibt es heute schon konkrete Ansätze dazu?

 

Ganz so weit ist die Kommission noch nicht, doch Ansätze zeichnen sich ab. Es wird deutlich, dass die Kommission nicht alles neu erfinden muss, sondern sie sich Bestehendes zu Eigen machen kann.  Es ist gibt Ansätze, die man ausbauen, optimieren und verbessern kann. Ich zähle dazu die bereits bestehenden Kompetenzzentren, die ihr Knowhow weiter ausbauen, sich besser vernetzen und ihr Wissen breiter zur Verfügung stellen könnten. Sicher werden wir auch darüber nachdenken, ob es ganz neue Ansätze und Strukturen braucht und was zum Beispiel KI und Digitalisierung leisten können.

 

Inwiefern kann der Bericht beispielhaft sein und vielleicht über die Klientel der Menschen mit Conterganschädigung hinauswirken?

 

Der Aufwand, den die Conterganstiftung mit der Einberufung der Kommission betreibt, sollte gut genutzt werden. Zwar soll der Bericht in erster Linie an die Conterganstiftung und an die zuständigen Stellen Erkenntnisse und Empfehlungen für die Versorgung von Menschen mit Conterganschädigung liefern. Doch es sollte auch ein Bericht aus der Kommissionsarbeit hervorgehen, dessen Aussagen für andere Zielgruppen verwendbar sind. Ich erwarte jedenfalls, dass die erarbeiteten Ergebnisse und Empfehlungen weiteren Zielgruppen mit Behinderungen zugutekommen. Dazu zählen sicherlich auch Empfehlungen der Kommission, die die Chancen von KI, Digitalisierung, Technik und Robotik in den Blick nehmen.

Ganz wichtig ist es der Kommission, dass ihrer Arbeit und den entwickelten Empfehlungen eine Bewertungsmatrix zugrunde gelegt wird, in der die Übertragbarkeit eine wichtige Rolle einnimmt.

 

Wichtig sein werden also auch die Adressaten des Berichtes?

 

Ja. Als Kommission der Conterganstiftung wird der Bericht in erster Linie für den Vorstand der Conterganstiftung verfasst. Dieser bewertet die Ergebnisse und veranlasst weitere Schritte. Die Adressaten auf inhaltlicher Ebene wären vielfältig:  Politik, Verwaltung, Kostenträger, Bildungseinrichtungen, Forschungsinstitute sowie Förderer und IT-Spezialisten. Meiner Meinung nach sollten auch Presse, Funk und Fernsehen einbezogen werden. Ihre Aufgabe wird es sein, Bewusstsein für das Problem zu schaffen, die Empfehlungen in die Gesellschaft zu tragen und für Verständnis zu sorgen. Kurzum es soll ein gut lesbarer Bericht hervorgehen, der vielfältiges Interesse hervorruft und Verbreitung findet.

 

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