Das Bild zeigt Häuser einer Stadt, im Vordergrund weht die brasilianische Flagge

"WIR HABEN NIEMANDEM DIE RENTE ENTZOGEN."

In den zurückliegenden Wochen machten Meldungen die Runde, denen zufolge die Conterganstiftung für behinderte Menschen etwa 60 Betroffenen in Brasilien die Renten entziehen will. Das war und ist nicht der Fall, sagt der Vorsitzende der Stiftung, Dieter Hackler. Wir haben ihn zu dem Thema befragt.

 

Herr Hackler, warum wurde nach Jahrzehnten rund 60 Menschen mit Conterganschädigung in Brasilien die Rente durch die Stiftung entzogen?

Die Conterganstiftung hat keinem Betroffenen die Rente entzogen, keine Zahlungen gekürzt oder Zuwendungen ausgesetzt.

 

Was genau hat die Conterganstiftung denn getan?

Zunächst einmal sahen wir uns gezwungen, ein Anhörungsverfahren nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz einzuleiten. Erst an dessen Ende könnte eine Reduzierung oder Einstellung der Rente bei den Betroffenen stehen. Darüber ist aber nicht entschieden.

 

Es kann also noch zu sozialen Härten kommen?

Das ist eher unwahrscheinlich. Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens ist es u.a. gerade, soziale Härten zu vermeiden - wenn es denn überhaupt zu einer Aberkennung der Renten kommen würde. Bei dieser Art Einzelfallprüfung würde die konkrete soziale Situation vor Ort eine wesentliche Rolle spielen.

 

In der Berichterstattung war von einem Skandal die Rede…

Das ist natürlich eine Dramatisierung und leider eine arg verkürzte Darstellung der wirklichen Gegebenheiten.

 

Ihr Schreiben an die Betroffenen enthielt also keine vollendeten Tatsachen?

Keinesfalls. Aber wir mussten tätig werden, schon allein aus unserem Stiftungsauftrag heraus. Wir haben in besagtem Schreiben den Sachverhalt geschildert, warum wir diese Anhörung überhaupt machen müssen. Wir haben die betroffenen Personen auch darum gebeten, dazu Stellung zu nehmen, damit wir die Umstände des jeweiligen Einzelfalles bewerten können.

 

Gab es denn keinen Handlungsspielraum, den gesamten Vorgang abzuwenden?

Leider nein. Ich wiederhole mich, die Conterganstiftung ist an Recht und Gesetz gebunden. Da haben wir keinen Handlungsspielraum. Im Gegenteil: Vorstand und Mitarbeitende hätten sich andernfalls u.U. dem Vorwurf der Untreue ausgesetzt. Es geht ja nicht zuletzt um Steuergelder. Nachdem das Stiftungskapital aufgebraucht ist, zahlen ja die Steuerzahler alle Renten. Und dem Steuerzahler sind wir darum Rechenschaft schuldig.

 

Der Contergan-Skandal ist nun gut ein halbes Jahrhundert her, alles schien geklärt. Was hat nach all den Jahren diesen Stein ins Rollen gebracht?

Hintergrund des Ganzen ist die Neu-Bewertung, dass das von den Müttern der betroffenen Personen damals in Brasilien eingenommene Medikament Sedalis ein Lizenzprodukt ist - damit also kein Medikament, das die Firma Grünenthal hergestellt und vertrieben hat. Unser Gesetz sieht aber vor, dass nur Menschen von der Stiftung Zahlungen erhalten dürfen, die unmittelbar durch Grünenthal-Produkte geschädigt wurden.

Durch eine Anfrage einer Person nach dem Informationsfreiheitsgesetz wurde öffentlich, dass Sedalis ein Lizenzprodukt ist und von einem brasilianischen Pharmaunternehmen hergestellt und vertrieben wurde.

 

Also nicht von Grünenthal in Deutschland?

Genau. Die Information, dass es sich in Brasilien um ein Lizenzprodukt handelte, kam im Rahmen der Anfrage von Grünenthal selbst. Grünenthal ist also in den Prozess involviert gewesen. Aufgrund der neuen Faktenlage mussten wir dann handeln. Die bisher erlassenen Verwaltungsakte schienen rechtswidrig zu sein.

 

Sicher lässt sich das mit Verträgen und Schriftstücken belegen?

Belegt ist die Lizensierung. Gleichzeitig gab es in der Vergangenheit die Anerkennung von Renten brasilianischer Betroffener, deren Mütter das Medikament Sedalis eingenommen hatten. Wie und warum die einzelnen Entscheidungen am Ende getroffen wurden, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen.

 

Trotz Ihres juristisch korrekten Vorgehens gab es Kritik an der Stiftung - auch von Grünenthal. Wie berechtigt ist diese?

Der Kritik muss man sich stellen, gerade bei schweren Entscheidungen. Es ist aber nicht so, dass Grünenthal selbst hierdurch irgendeinen Schaden nimmt. Sorgen bereitet mir allerdings, wie leichtfertig die Bindung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung an Recht und Gesetz - aus welchen Motiven auch immer - dann auch von Medienvertretern in Frage gestellt wurde.

 

Das müssen Sie jetzt näher erläutern.

Nun, die Stiftung wurde dazu von den Medien befragt und hat geantwortet, so wie ich jetzt Ihnen. Unsere Sicht und unsere Handlungszwänge wurden allerdings nicht in den Berichten berücksichtigt oder dargestellt. Ausgewogen war das nicht. Die Stiftung kam als kaltes Bürokratiemonster rüber. Wir sind aber keine Bürokraten. Wir helfen den Betroffenen und beraten sie Tag für Tag.

 

Was passiert nun? Welche Politik verfolgt die Stiftung jetzt?

Für uns ist der Sachverhalt geklärt. Wir hoffen nach einem Gespräch mit den zuständigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass es der Politik gelingt, kurzfristig das Conterganstiftungsgesetz zu ändern. Das wäre für alle das Einfachste, vor allem für die betroffenen Personen.

 

Was müsste da geändert werden?

Das geänderte Contergan­stiftungsgesetz müsste beinhalten, dass Zahlungen bei bereits anerkannten betroffenen Personen auch im Falle von Lizenzprodukten der Firma Grünenthal Geltung haben. Sollte das allerdings nicht klappen, müssten wir in eine wohlwollende Einzelfallprüfung eintreten. Das sollte im Sinne der Betroffenen möglichst vermieden werden.