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„Wir haben uns von einer Rentenauszahlungskasse zur Serviceeinrichtung entwickelt“

Die Conterganstiftung in der Presse: Die ZEIT ONLINE-Redaktion sprach jüngst mit Stiftungsvorstand Dieter Hackler darüber, was die Stiftung in den vergangenen Jahren dank der Unterstützung durch den Deutschen Bundestag und der Bundesregierungen für Betroffene erreicht hat, darunter eine enorme Erhöhung der Conterganrenten, den Aufbau eines breit aufgestellten Beratungsbereichs mit Infoportal und von bundesweit zehn multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren. Aktueller Hintergrund des telefonisch geführten Gesprächs bildet das für kommende Woche erwartete höchstrichterliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Anerkennung von Conterganschäden. Wir geben hier zum Nachlesen die zentralen Fragen und Antworten wieder. 

 

Was erwarten Sie von der Anhörung am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 9. Juli? 

In erster Linie erwarten wir, dass das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung Ausführungen zu der für die Conterganstiftung bedeutsamen Rechtsfrage des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs macht. Dieser kommt zur Anwendung, wenn geprüft wird, ob eine Conterganschädigung vorliegt.

 

Warum ist die Contergan-Stiftung nach dem Urteil des OVG Münster im Jahr 2023 in Revision gegangen? 

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat in einem Berufungsverfahren am 23.11.2023 ein Urteil gesprochen, aus dem sich Änderungen für die Verfahrensweise der Medizinischen Kommission der Conterganstiftung ergeben. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte, dass in der Medizinischen Kommission größtmögliche Expertise zur Thalidomid-Embryopathie vorhanden ist; der Maßstab der Beweisführung, ob ein Schaden im Sinne des Conterganstiftungsgesetzes vorliegt, zukünftig jedoch geändert werden müsse. Genau zu diesem Punkt hat das OVG Münster Revision zugelassen, um eine höchstrichterliche Entscheidung zu ermöglichen.

Die Conterganstiftung hat Revision eingelegt, um in dieser bedeutsamen Grundsatzfrage durch eine höchstrichterliche Entscheidung Rechtsicherheit und Rechtsklarheit für die Conterganstiftung, die Betroffenen, die Medizinischen Kommissionen, die Politik und auch die Instanzgerichte selbst herbeizuführen.

 

Ist die Kritik an den Abläufen in der Stiftung für Sie nachvollziehbar?  

Grundsätzlich setzt sich die Conterganstiftung mit Anregungen oder konstruktiver Kritik auseinander und ist jederzeit willens, Verbesserungen zu prüfen oder umzusetzen, sofern sie der Erreichung des Stiftungszwecks dienen und vom gesetzlichen Rahmen umfasst sind.

Der Kritik in Bezug auf die Verfahrensweise der Medizinischen Kommission haben wir uns unmittelbar angenommen und die Geschäftsordnung überarbeitet. Allerdings ist die Verfahrensweise der Medizinischen Kommission in der vergangenen 20 Jahren gerichtlich nicht kritisiert oder in Frage gestellt worden.

 

Was würde es für die Contergan-Stiftung und die aktuellen wie früheren Entschädigungsverfahren bedeuten, wenn das Urteil von Münster bestätigt würde? 

Das Urteil des OVG Münster ist eine Entscheidung in einem Einzelfall. Andere Verfahren, welche in der Vergangenheit rechtskräftig abgeschlossen wurden, sind nicht betroffen.

Auch im Falle einer Bestätigung der geänderten Rechtsprechung zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab haben die in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungen Bestand. Abgeschlossene Verfahren werden nicht wieder aufgegriffen

 

Was hat sich Ihrer Ansicht nach in den vergangenen Jahren in der Contergan-Stiftung positiv entwickelt?  

2008 wurde die Conterganstiftung grundsätzlich neu aufgestellt. Sie ist seitdem ausschließlich für Menschen mit Conterganschädigung zuständig.

Diese Fokussierung hat zunächst eine Verdopplung der Renten zur Folge gehabt; dann das Einwerben von noch einmal 50 Mio. Euro von der Firma Grünenthal, die der Bund um seine Einlage mit 50 Mio. Euro ergänzte, so dass Sonderzahlungen möglich wurden, die fast eine Verdreifachung der Renten bedeutet haben.

In diesem Zusammenhang hat die Conterganstiftung die Heidelberger Studie beauftragt, deren Ergebnis die bahnbrechende weitere Versechsfachung der Renten ab 2013 ermöglichte. Die Renten wurden dynamisiert. Außerdem wurden Pauschale Leistungen für spezifische Bedarfe der Betroffenen in Höhe von 30 Mio. Euro jährlich eingeführt. 2005 betrug die monatliche Höchstrente 545 Euro und heute liegt sie bei 10.017 Euro. Sie ist steuerfrei, abgabenfrei und anrechnungsfrei.

Dazu haben wir einen Beratungsbereich für Menschen mit Conterganschädigung aufgebaut. Darüber hinaus haben wir 10 multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentren bundesweit errichtet, die gut vernetzt für Menschen mit Conterganschädigung und ihre Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stehen. Zurzeit läuft an den Uniklinken in Köln und Ulm die Durchführung einer Gefäßstudie mit 438 Menschen mit Conterganschädigung.

Die von uns eingesetzte Expertinnen- und Experten-Kommission unter der Leitung von Frau Barbara Steffens und Herrn Dr. Lehnhard- Schramm wird ihre Ergebnisse zur medizinischen Versorgung, zur psychosozialen Begleitung und zum Wohnen in Alter mit Einschränkung im nächsten Jahr vorlegen.

Wir haben die Conterganstiftung von einer Rentenauszahlungskasse, die bis 2007 16 Mio. Euro jährlich auszahlte, zu einer Service-Einrichtung für Menschen mit Conterganschädigung entwickelt, die jetzt jährlich ca. 180 Mio. Euro jährlich ausgibt.

Mit unserem Contergan-Infoportal, mit Gesprächsrunden, mit regelmäßigen Infobriefen und einem Newsletter haben wir auch eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit, durch die die Menschen mit Conterganschädigung gut informiert werden.

 

Wo gibt es Verbesserungsbedarf? 

Die Menschen mit Conterganschädigung werden älter. Entsprechend verändern sich ihre Bedarfe. Dem wollen wir mit der Expertinnen- und Expertenkommission entsprechen. Die medizinische und die psycho-soziale Begleitung werden in Zukunft immer wichtiger werden. Auch der Aspekt des selbstbestimmten Wohnens im Alter spielt eine bedeutsame Rolle.

 

Sind seit dem Urteil des OVG Münster 2023 neue Fälle entschieden worden – oder ruhen alle Verfahren? 

Bei der Beantwortung der Frage muss man differenzieren:

Neuanträge, bei denen der Beweismaßstab entscheidungserheblich ist, werden aktuell zurückgestellt, bis das Bundesverwaltungsgericht in dieser Frage entschieden hat. Das betrifft jedoch nur einen sehr kleinen Teil der offenen Anträge.

Zur Erklärung: Unter Neuanträgen versteht man Anträge von Personen, die bisher keine Leistungen der Stiftung erhalten und nicht anerkannt sind.

Revisionsanträge hingegen werden seit Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung zum 01.11.2024 auf Grundlage der nun verankerten Prüfkriterien beschieden – das geschieht laufend durch die nunmehr tätigen zwei medizinischen Kommissionen.

Zur Erklärung: Revisionsanträge meint Anträge von bereits anerkannten Personen, die neue Schädigungen geltend machen.

 

Woran liegt es, dass so viele Neuanträge abgelehnt werden? 

§ 12 Conterganstiftungsgesetz regelt, welche Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung vorliegen müssen. Liegen diese nicht vor, ist ein Antrag abzulehnen.

2009 wurde die sogenannte Ausschlussfrist aufgehoben. Seitdem konnten Neuanträge gestellt werden. Das waren am Anfang Fälle, wo lange über die Einnahme von Contergan durch die Eltern geschwiegen worden war. Diese Fälle konnten schnell anerkannt werden.

In den letzten Jahren erhielt die Stiftung viele Anträge, die schon aufgrund des Geburtsjahrgangs kaum anerkannt werden konnten. Denn nur wer bei Inkrafttreten des Errichtungsgesetzes 1972 lebte, und nachweislich aufgrund thalidomidhaltiger Präparate der Firma Grünenthal geschädigt wurde, kann Leistungen der Stiftung erhalten.

 

 

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