Das Bild zeigt zwei Kinder mit Conterganschädigung

„Contergan drang damals tief in den Lebensstil der Menschen ein“

Der Conterganskandal hat neben den medizinischen viele weitere Aspekte – seien es juristische, gesamtgesellschaftliche oder politische. Einer, der sich intensiv mit dem Conterganskandal im gesellschaftlichen Kontext befasst hat, ist der Historiker Dr. Niklas Lenhard-Schramm von der Universität Hamburg. Was er zur Konsumgesellschaft im Nachkriegsdeutschland, zum Umgang mit Arzneimitteln und schließlich zum Prozess um Contergan sagt, lesen Sie hier in unserem zweigeteilten Interview.

 

Herr Dr. Lenhard-Schramm, Sie sind Historiker für neuere und neueste Geschichte an der Universität Hamburg und haben einen Ihrer Forschungsschwerpunkte auf die Medizingeschichte gelegt. Wie kam es zu diesem Schwerpunkt?

Das ist relativ banal über ein Forschungsprojekt passiert. Als ich nach Abschluss meines Studiums promovieren wollte, damals noch an der Universität Münster, hat mich mein späterer Doktorvater darauf angesprochen, ob ich an dem Thema Interesse hätte. Die Landesregierung hatte das Projekt über das damals zuständige Ministerium ausgeschrieben. Dabei ging es um die Aufarbeitung der Rolle des Landes Nordrhein-Westfalen während des Conterganskandals. Mein Chef hatte sich bereits mit seinem Team auf die Teilnahme beworben. Nach kurzer Bedenkzeit war klar: Ich bin dabei.

 

Sie haben auch danach über das Forschungsprojekt hinaus zum Conterganskandal geforscht und publiziert. Was hat Sie an diesem komplexen Thema gereizt?

Der Reiz liegt genau in dieser Komplexität. Im Rahmen der Recherchen und Quellenstudien bin ich auf so viele interessante Themen und Aspekte gestoßen, die der Conterganskandal berührt und denen man nachgehen kann. Manchmal kommt ein Thema in den Medien auf, das einen an die Contergan-Thematik erinnert. In letzter Zeit habe ich mich zum Beispiel näher mit der Arzneimittelerprobung an Minderjährigen in der frühen Bundesrepublik befasst. Auf diesem Weg hatte ich auch danach – und eigentlich bis heute – immer wieder in meiner Arbeit mit Contergan zu tun. 

 

Wie würden Sie das „Image“ von Medikamenten oder allgemein der Medizin im Nachkriegsdeutschland beschreiben?

Wir müssen uns die Gesellschaft damals vor Augen führen. Grundsätzlich war die Haltung der Bevölkerung gegenüber Medikamenten und auch der Ärzteschaft in der frühen Bundesrepublik eine deutlich andere als heute. Es gab eine andere Rollenverteilung, ganz andere Mechanismen der Regulierung. Der Staat spielte hier nur eine untergeordnete Rolle. Die eigentliche Regulierung erfolgte durch Wissenschaft, Pharmazie und Ärzteschaft. Diese Akteure nahmen für sich in Anspruch, über die Verfügbarkeit und Anwendung von Arzneimitteln entscheiden zu dürfen. Und dieser Anspruch wurde weithin akzeptiert.

Auch die Wahrnehmung von Arzneimitteln war eine andere: Allgemein hatten Medikamente ein sehr positives Image, schon allein, weil es viele positive Beispiele gab. Nehmen wir etwa Penicillin, Cortison oder Mittel gegen Diabetes wie Insulin. All diese Medikamente waren brandneu und sensationell wirksam. Viele schlimme und für unheilbar geltende Krankheiten konnten plötzlich mit ein paar Tabletten geheilt werden. In den Fünfzigern stülpten diese Mittel den Markt regelrecht um und schufen ein Gefühl, als könne man mit Medikamenten bald quasi alle Krankheiten besiegen. Das Vertrauen in die Medizin und den Fortschritt war enorm – und Ärzte galten als „Halbgötter in Weiß“.

 

Also ein Gefühl von Machbarkeit, der Macht über Krankheiten vor dem Hintergrund des deutschen Wirtschaftswunders?

Genau. Ein zentraler Aspekt ist, dass sich in der Zeit auch die Konsumgesellschaft etablierte. Die Menschen erlebten einen gesellschaftlichen Aufstieg, konnten sich immer mehr leisten, hatten mehr Freizeit, ihnen stand sozusagen die Welt offen. Diese Atmosphäre muss man sich vergegenwärtigen.

Was es auf der anderen Seite auch gab, waren die Folgen des Krieges in Form von posttraumatischen Belastungsstörungen. Psychologie und Psychiatrie rückten verstärkt in den Blick. Damit ging ein wachsender Bedarf an Psychopharmaka einher, die ersten so genannten Tranquilizer, also Beruhigungsmittel, kamen auf den Markt. Die oben geschilderte Sorglosigkeit und das Gefühl, alles schaffen zu können – oder auch zu müssen – führte in der neuen Leistungsgesellschaft dazu, dass viele Menschen zu Psychopharmaka griffen, zu entkrampfenden Mitteln oder zu Schlaf- oder Beruhigungspillen. Der „Spiegel“ sprach damals von „Seelenaspirin“. Kurz: Arzneimittel wurden immer öfter konsumiert, um soziale Probleme zu behandeln. Und auf diese Gesellschaft trifft dann Contergan.

 

Sie selbst haben von Contergan als einem „Lifestyle-Medikament“ gesprochen…

Der Begriff wurde zum Teil völlig missverstanden. Wegen des angeblichen und impliziten Vorwurfs, ich würde den Müttern damit irgendeine Art Schuld zuweisen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Contergan galt als vollkommen harmlos und unschädlich. Gerade deshalb wurde es ja so oft genommen, gerade deshalb war das Präparat so erfolgreich in dieser Zeit. Der Begriff sollte daher auf die oben beschriebene gesellschaftliche Atmosphäre zielen.

 

Und Grünenthal hat exakt dieses Lebensgefühl aufgegriffen und Contergan entsprechend beworben.

Ja. Man nahm es eben, weil es für alles Mögliche und so gut wie für alle Menschen als Hilfsmittel galt. Dieser Art von Produkten vertraute man grundsätzlich. Mit Schuldvorwürfen hat das nichts zu tun. Das würde implizieren, dass man von dessen Schädlichkeit hätte wissen können und das Medikament trotzdem aus einem Lebensgefühl heraus eingenommen hätte. Das gibt die Forschung aber überhaupt nicht her.

Contergan galt als „Harmlos wie ein Zuckerplätzchen“. Es wurde gegen Lampenfieber und zur Examensvorbereitung beworben, auch gegen Kontaktschwäche auf Tanzveranstaltungen. Sogar als Saft, extra für Kinder mit Himbeergeschmack, wurde es produziert. Es gibt Berichte, dass Contergan als „Kinosaft“ bezeichnet wurde, als Einschlafhilfe für die Kleinen, damit die Eltern ausgehen konnten. Das Abstruseste war, dass man das Schlafmittel Contergan gar als Mittel gegen den Schlafmittelmissbrauch vermarktete.

So hatte Contergan das Image, eben auch soziale Probleme zu lösen und drang damit tief in den Lebensstil der Menschen jener Zeit ein. Das meint „Lifestyle“. Die Konsumentinnen und Konsumenten hatten aber von den schlimmen Folgen gar nichts ahnen können.

 

Gab es denn wirklich keinerlei Warnungen?

Es hat Studien gegeben, bei denen leichte, harmlose Nebenwirkungen festgestellt wurden. Nur waren das keine Studien im heute üblichen Sinne, mit Kontrollgruppen oder Doppelblindstudien, wie sie längst Standard sind. Das lief damals eher so, dass die Herstellerfirma Ärzten Proben des Medikaments zur Verfügung stellte, die es dann klinisch getestet haben. Allerdings ohne jede wissenschaftliche Methodik und alles andere als unabhängig. Die Berichte über diese Anwendungen – nicht selten handschriftlich ausgefüllte Zettel – wurden dann ausgewertet. Das waren damals so genannte Routineprüfer, die auch ein Gehalt von den Firmen dafür bezogen. Am Ende handelte es sich oft um mehr oder minder formlose Unbedenklichkeitsbescheinigungen.

Auch waren manche Nebenwirkungen von Contergan eben erst nach langfristiger Einnahme zu beobachten. Während des Prozesses kam später heraus, dass Grünenthal schon früh durch Ärzte auf Nerven- und Empfindungsstörungen vor allem nach längerem Gebrauch des Medikaments bei älteren Menschen hingewiesen worden war. Die Firma bemühte sich aber, solche Berichte unter dem Teppich zu halten. Als das nicht mehr gelang, wurden die Verdachtsmomente bagatellisiert.

 

Wie konnte der Skandal passieren? Welche Akteure begegnen uns in der historischen Rückschau?

Hier kommen wir wieder auf die oben schon erwähnten Strukturen der Arzneimittelregulierung zurück. In ihnen hatte der Staat als Korrektiv nur sehr wenig Kompetenzen. Diese lagen bei den Fachleuten, also bei Herstellerfirmen, der Ärzteschaft, den Apothekern und Forschenden. Ich spreche da von einem vorstaatlichen bzw. unpolitischen Regulierungssystem. Und dieses System war damals Konsens. Die obrigkeitliche Struktur der deutschen Gesellschaft war noch deutlich ausgeprägter als heute, noch nicht so selbstbewusst demokratisch. In manchen medizinischen Bereichen ist es bis heute so, dass der Staat möglichst wenig vorgeben soll. Ärztinnen und Ärzte sind hier die gesellschaftlich größeren Autoritäten – und das war in den Fünfzigern noch viel extremer.

Eine große Rolle spielte auch die Industrie. Dieser wollte man im „Wirtschaftswunder“ politisch möglichst wenig Grenzen setzen und nach dem Krieg wieder auf die Beine helfen. Ein weiterer Aspekt ist die gesetzliche Meldepflicht etwa von Fehlbildungen bei Säuglingen. Hier gab es eine große Ablehnung, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus.

 

So blieb vieles lange im Verborgenen…

Ja. Und wenn man damals Probleme mit einem Medikament hatte, wandte man sich direkt an den Hersteller oder an den Arzt, nicht aber an den Staat. So lagen Grünenthal tausende von Meldungen über Nebenwirkungen vor, ohne dass man hier eingriff.

Erst nachdem Ärzte im Frühjahr 1961 einen konkreten Zusammenhang zwischen Contergan und Fehlbildungen bei Neugeborenen nachzuweisen versuchten, kam das ins Rollen, was als Conterganskandal in die Geschichte eingehen sollte.

 

Im zweiten Teil des Interviews lesen Sie die Sicht des Historikers auf die Strategie der Herstellerfirma, den Prozess und die Lehren aus dem Conterganskandal.

 

LINK

Ein weiteres Interview, dass Herr Dr. Lenhart-Schramm für den Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e. V. gegeben hat, finden Sie unter dem folgenden Link.

Der Conterganskandal, ein Historische Aufarbeitung in einem ausführlichen Interview

 

Foto: picture-alliance/ dpa | Hans Heckmann