Das Bild zeigt Markus Leßmann, Mitglied der Expertinnen- und Expertenkommission

„Das Lebensumfeld so gestalten, dass selbstbestimmtes Leben möglich ist“

Markus Leßmann ist Jurist, Abteilungsleiter im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen und Mitglied in der Expertinnen- und Expertenkommission der Conterganstiftung. Wir sprachen mit ihm über seine Rolle als Vertreter aus den Bereichen Verwaltung und Recht.

 

Herr Leßmann, Sie sind von Haus aus Jurist und leiten die Abteilung „Soziales“ im Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Düsseldorf. Sie verfügen daher über große Expertise in den Bereichen Verwaltung und demographische Entwicklung. Wie wurden Sie in die Kommission berufen? Hatten Sie schon zuvor Berührung mit dem Thema Contergan?

Von 2011 bis 2017 habe ich die Abteilung „Alter und Pflege“ im zuständigen Landesministerium in NRW geleitet. Da gab es im Themenbereich Pflege wie auch im Themenbereich Inklusion in der Sozialabteilung, die ich jetzt seit Februar 2023 leite, viele Versorgungsfragen, die auch für Menschen mit Conterganschädigung von hoher Relevanz sind. Ein besonderes Schwerpunkthema war dabei für mich immer eine Quartiersentwicklung gerade aus dem Blickwinkel von Menschen mit einer Behinderung oder auch von älteren Menschen. „Leben und Sterben wo ich hingehöre“ lautet ein Buchtitel von Prof. Dörner, der das Ganze sehr gut auf den Punkt bringt. Diesen Wunsch auch für Menschen mit besonderen Unterstützungsbedarfen umsetzbar zu machen, das war mir  seit jeher ein besonderes Anliegen. Und die positive Gestaltung des Lebensumfeldes für diese Gruppe stellt auch ein zentrales Thema für die Arbeit in der Kommission dar. Vermutlich hat mich daher die Kommissionsvorsitzende Barbara Steffens um eine Mitwirkung gebeten.

 

Sie haben sich also bereits zuvor beruflich mit dem Thema des Lebens im Alter befasst. Wie können Sie mit Ihrer Position und Ihrer Erfahrung zu Problemlösungen beitragen?

Ich glaube, gerade für die Gestaltung eines guten Settings für ein selbstbestimmtes Leben im Alter – ob mit oder ohne eine Behinderung – bedarf es einer guten Kenntnis und eines möglichst umfassenden Verständnisses der ineinandergreifenden Systeme unserer Sozialgesetzbücher. Die sind allerdings leider inzwischen so komplex, dass ich selbst nach vielen Jahren Erfahrung keinen vollständigen Überblick mehr für mich in Anspruch nehmen würde. Zudem bringe ich praktische Erfahrung aus der kommunalen Sozialpolitik mit. Und auch dieser Blick kann helfen, wenn es um die Gestaltung guter Rahmenbedingungen konkret vor Ort im gewünschten Lebensumfeld der Menschen geht, für die die Conterganstiftung sich einsetzt.

 

Sie sind als Experte für die Bereiche Verwaltung und Recht in der Kommission. Das klingt für viele vielleicht etwas trocken. Können Sie uns erläutern, warum diese Fachgebiete durchaus spannend sowie für die Kommissionsarbeit bereichernd sind?

Sämtliche Unterstützungsleistungen und auch die bestmögliche Gestaltung des Wohnumfeldes bedürfen ja einer Finanzierung aus den verschiedenen Sozialleistungssystemen und ggf. auch aus Förderprogrammen. Da kann in unserer oft viel zu bürokratischen Welt eine gewisse Verwaltungserfahrung sicherlich bei der Erarbeitung umsetzbarer Konzepte helfen. Ziel ist es schließlich, die Systeme so zu nutzen, dass sie den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Und das ist immer wieder herausfordernd, aber auch spannend.

 

Nennen Sie uns eines oder zwei Beispiele: Bei welchen Fragestellungen etwa wird das Rechtliche relevant und wie kann es zur Problemlösung beitragen?

Gern nenne ich Ihnen zwei konkrete Beispiele aus unserer bisherigen Arbeit: Welche Umbauten in Sachen Barrierefreiheit sind rechtlich in einer Mietwohnung zulässig? Eine weitere Fragestellung ergibt sich daraus, welches Sozialleistungssystem eine Begleitung oder Assistenz während eines möglichen Krankenhausaufenthaltes finanziert.

 

Wie wichtig ist es, die Empfehlungen der Expertinnen- und Expertenkommission in die bereits bestehende Versorgungslandschaft zu integrieren und miteinander zu verzahnen?

Das halte ich für unverzichtbar. Denn auch wenn bei den Menschen mit einer Conterganschädigung die Behinderungsursache und auch die Ausprägungen sehr speziell sind, stehen sie doch vor ähnlichen Herausforderungen und benötigen ähnliche Unterstützungsstrukturen und ein möglichst barrierefreies Wohnumfeld wie andere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Gerade in der heutigen Zeit, in der der zunehmende Fachkräftemangel bedarfsgerechte Angebote immer mehr erschwert, ist es von zentraler Bedeutung, dass wir eine Infrastruktur und das Lebensumfeld so gestalten, dass mit möglichst effizientem Ressourceneinsatz möglichst viele Menschen unterstützt werden können, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Einen Personaleinsatz für parallele „Versorgungslandschaften“ können wir uns immer weniger erlauben.

 

In dem Gremium werden viele Themen behandelt, Ideen entwickelt und debattiert. Man kann sich vorstellen, dass Sie oft dazwischen gehen und sagen müssen: Das oder das geht so nicht, wie Ihr Euch das vorstellt. Das führt wahrscheinlich zu Unmut. Wie gehen Sie damit um?  

Das ist bisher eigentlich nicht oder selten vorgekommen. Zum einen haben die Expertinnen und Experten in eigener Sache ja schon eine jahrelange Lebenserfahrung „im System“ und sind nicht naiv bezüglich der Möglichkeiten in unserem Sozialstaat. Zudem habe ich den Anspruch, dass wir das, was die Menschen brauchen, auch irgendwie möglich machen müssen. Das muss doch der Anspruch des Sozialstaates sein. Und wenn dem bürokratische Hindernisse entgegenstehen, müssen wir überlegen, wie wir sie überwinden. Das erscheint mir auch dringend notwendig für die Akzeptanz des Staates in unserer Gesellschaft, um die es bei vielen Menschen ja leider gerade schlecht bestellt ist.

 

Was wünschen Sie sich: Was soll am Ende der Kommissionsarbeit als Ergebnis stehen?

Wenn wir eine Vision aufzeigen können, wie Menschen mit einer auf eine Conterganschädigung zurückzuführende Behinderung auch im Alter in dem sozialen Umfeld leben können, das sie sich für sich wünschen, und sich dort auch gut aufgehoben und verlässlich versorgt fühlen, dann wäre ich sehr zufrieden mit unserer Arbeit.

 

 

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