Dr. Christoph Buchhold

"Die Geschichte um Contergan ist hoffentlich jedem Mediziner bekannt"

Der Orthopäde Dr. Christoph Buchhold hat im April 2024 die durch Contergan geschädigte Helen Müller operiert (CIP berichtete hier). Aufgrund ihrer conterganbedingten Einschränkung sind in ihrer Rehabilitation besondere Herausforderungen zu meistern. Zudem war bei ihr eine beidseitige Hüft-OP erforderlich. Ihre Reha fand in der Klinik Hoher Meißner in Bad Sooden-Allendorf statt – einem multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentrum der Conterganstiftung.

 

Herr Dr. Buchhold, wann und wie ist Helen Müller mit Ihnen in Kontakt getreten?

 

Soweit ich weiß, kam der Kontakt über eine andere Patientin mit einer Thalidomid-Schädigung zustande, die zuvor auch von mir an der Hüfte operiert wurde.

Frau Müller selbst hat sich im Februar 2024 erstmals bei mir in der Praxis Orthopädisches Zentrum Bogenhausen (OZB) vorgestellt, um sich bezüglich ihrer beidseits seit längerem bestehenden Hüftbeschwerden untersuchen und beraten zu lassen. Die Diagnostik und Therapie von Hüftgelenkserkrankungen, insbesondere die Versorgung mittels Hüftgelenks-Endoprothese über einen sehr schonenden minimalinvasiven Zugang (AMIS(R)-Zugang) nach Ausschöpfung der konservativen Therapieoptionen ist der Schwerpunkt unserer Praxis.

 

Waren Ihnen die Historie rund um den Conterganskandal und die speziellen medizinischen Herausforderungen durch Thalidomid-Schäden zuvor bekannt?

 

Die Geschichte um Thalidomid/Contergan ist hoffentlich jedem Mediziner bekannt. Wobei die meisten wohl primär von den verkürzten, teils nicht ausgebildeten Händen oder Armen wissen und weniger über die weiteren Auswirkungen, die ja neben Hüftgelenken und den Füßen auch Veränderungen an Magen-Darm-Trakt, Genitalien und Ohrmuscheln beinhalten können.

 

Helen Müllers Hüften wurden von Ihnen in der Sana-Klinik in München operiert. Welche besonderen Herausforderungen waren damit verbunden, auch medizinisch?

 

Bei Frau Müller lagen mehrere Besonderheiten vor. Zum einen hatte sie eine schwere Hüftreifestörung – eine sogenannte Dysplasie – bei der die Hüftpfannen nicht voll ausgebildet sind und es somit zu einem erhöhten Verschleiß kommt, der dann eine Arthrose begünstigt. Hierdurch bedingt ist die Verankerung der Prothesen-Pfanne durch die geringere knöcherne Abdeckung deutlich anspruchsvoller.

Zum anderen sind die Arme so kurz ausgebildet, dass Frau Müller bei normalen Routinen wie Waschen, Kämmen und eben sämtlichen Manipulationen an Kopf und Gesicht auf ihre Beine und Füße angewiesen ist, was wiederum eine deutlich erweiterte Beweglichkeit der Hüftgelenke voraussetzt. Dies ist schwer zu erreichen und mit einem erheblichen Risiko für eine Luxation, also ein Auskugeln der Prothese, verbunden.

Hinzu kam noch eine Beinlängendifferenz von zwei Zentimetern, die nach Möglichkeit im Rahmen der OP auch korrigiert werden, sollte, um ein normales Gangbild zu ermöglichen und die Gefahr einer Progredienz – dem Fortschreiten der Krankheit - der vorbestehenden Rückenbeschwerden zu minimieren.

 

Trotz des Befundes haben Sie beschlossen, nur eine einzige OP zu machen?

 

Ja. Denn eine weitere Besonderheit waren die beidseitigen Beschwerden, die eine Versorgung mit Hüftprothesen in einer Sitzung sinnvoll erscheinen ließ. Dies wird aufgrund erhöhter Risiken nur von wenigen Operateuren angeboten, ist bei uns aber dank großer Routine mit der schonenden AMIS(R)-Methode – eine minimalinvasive Hüft-OP - mit geringem Blutverlust – und bei entsprechender Indikation – ein häufig durchgeführter Eingriff.

Um die Gesamtsituation sicher einschätzen zu können, empfahl ich Frau Müller beidseits eine CT-basierte 3D-Planung, anhand derer ich dann ein individuell passendes Konzept entwerfen konnte. Aufgrund der besonderen anatomischen Situation und der erforderlichen Beweglichkeit empfahl ich letztlich die Versorgung mittels individuell hergestellter Prothesenschäfte (Firma Symbios INDIVIDUAL HIP(R)) und einer hochmobilen und sehr luxationssicheren sogenannten tripolaren Hüftpfanne (Mpact Double Mobility, Firma Medacta). Bei besonderen Indikationen übernimmt auch die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für diese besonderen Implantate.

 

Die Reha von Frau Müller hat im Kompetenzzentrum Bad Sooden-Allendorf bei Ihrem Kollegen Dr. Stück stattgefunden. Wie kam die Bekanntschaft bzw. Kooperation mit Herrn Dr. Stück zustande?

 

 Während üblicherweise etwa 80 Prozent meiner Patienten und Patentinnen keine stationäre Reha absolvieren, sondern zweimal pro Woche zu Hause eine Physiotherapie machen, haben wir uns bei Frau Müller aufgrund der besonderen Situation und der beidseitigen Versorgung gemeinsam für eine stationäre Reha in der Klinik Hoher Meißner entschieden. Dort herrscht viel Erfahrung in Sachen Rehabilitation von Thalidomid-geschädigten Menschen. Frau Müller hatte zudem bereits sehr viel Gutes über diese Einrichtung gehört.

 

Sind Sie weiterhin in die Nachsorge von Frau Müller involviert? Welche besonderen Anforderungen stellen sich hier an eine Rehabilitation?

 

Ja. Jeder Patient, der von mir operiert wurde, wird in der Regel auch von mir weiterbetreut. Meist reicht hierzu eine Kontrolle nach ca. sechs Wochen, und nochmals nach etwa einem Jahr. Wenn Besonderheiten vorliegen können es auch ca. vier Monate nach der OP sein. Das schaffen auch die Patientinnen und Patienten wie Frau Müller, die eine längere Anreise nach München haben.

Gerade in der Anfangsphase benötigte Frau Müller bedingt durch die stark verkürzten Arme natürlich etwas mehr Unterstützung. Aber dank der schonenden Technik, bei der die Muskulatur nur sehr gering geschädigt wird, konnte sie die ersten Tage auch auf einer normalen Station in der Sana-Klinik München-Sendling betreut werden. Bis sie dann am siebenten Tag nach der OP in die Rehaklinik verlegt werden konnte.

 

Sie würden von einer rundum gelungenen Herangehensweise und Ergebnis sprechen?

 

Ja, das kann man definitiv so sagen. Zudem: Frau Müller ist eine wunderbare Person und Patientin, die von Anfang an sehr gut mitgearbeitet hat und so bereits recht schnell wieder mobil war. Das war enorm wichtig. So konnte sie auch von den sehr guten Bedingungen in der Klinik Hoher Meißner maximal profitieren, die ein perfektes Umfeld für eine zielgerichtete Rehabilitation ohne Überlastung darstellte.

 

Gibt es weitere Fälle, an denen Sie gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten der Medizinischen Kompetenzzentren arbeiten oder sich austauschen?

 

Über unsere Praxis werden jedes Jahr um die 1.000 Hüft- und Kniegelenksprothesen operiert. Wir erstellen für jeden Patienten ein individuelles Konzept, angefangen bei der OP-Planung und der Implantat Auswahl bis hin zur individuell besten Form der Nachsorge. Bei Bedarf beziehen wir die Kollegen der Medizinischen Kompetenzzentren selbstverständlich mit ein.

 

Welchen Mehrwert haben die hochspezialisierten multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für die Betroffenen und wie kann eine weitergehende Vernetzung in der medizinischen Landschaft zukünftig aussehen?

 

Gerade bei Patientinnen und Patienten mit komplexen Krankheitsbildern, die idealerweise auch von verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen betreut werden, ist es äußerst wichtig, dass die Wege kurz sind, und jeder weiß, wen er für welche speziellen Fragen erreichen kann. Dies hilft ungemein dabei, eine optimale Versorgung zu erreichen.

 

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