Das Bild zeigt das Mitglied des Stiftungsrates Bettina Ehrt auf ihrem Sesselfahrrad im Park

„Ein großes, gemeinsames Projekt.“

Die Förderung von multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren durch die Conterganstiftung nimmt Gestalt an. Die Zentren sollen spezifisches Wissen bereitstellen sowie angemessene Behandlungs- und Therapieansätze für Menschen mit Conterganschädigung entwickeln. In unserem zweiten Interview zum Thema sprachen wir mit Bettina Ehrt. Sie ist Mitglied im Stiftungsrat und richtet ihren Blick auch als Ärztin auf die Bedürfnisse der Betroffenen.

 

Frau Ehrt, auch an Sie die Frage: Was müsste ein medizinisches Kompetenzzentrum aus Ihrer Sicht leisten?

Zunächst möchte ich Herrn Stürmer beipflichten, dass der Begriff „Kompetenznetzwerk“ wesentlich zutreffender wäre. Es geht darum, ein funktionierendes Netzwerk zu etablieren. Sicher ist es wichtig, was an den einzelnen Standorten medizinisch geleistet werden kann. Doch ebenso wichtig muss sein, dass die verschiedenen Fachkräfte vernetzt agieren und sich austauschen. Sie müssen ihr Wissen außerhalb des eigenen medizinischen Zentrums verfügbar machen und an andere weitergeben. Die Organisation und das Wirken sollten dezentral sein. Hier wird die Telemedizin wichtig werden.
 

Nicht zuletzt, um Menschen mit Conterganschädigung das Reisen zu ersparen?

Das spielt auch eine wichtige Rolle. Vor allem aber ist es so, dass wir sehr seltene Schädigungen haben, die weit verteilt anzutreffen sind. Oft sind an einem Ort – oder eben Zentrum – nur wenige identische Fälle bekannt. Eine gewisse Fallzahl ist aber Voraussetzung für eine gezielte Hilfe. Die Ärztinnen und Ärzte müssen also zum einen bei sich vor Ort eine gewisse Fallzahl haben. Zum anderen müssen Betroffene, die fernab von einem Kompetenzzentrum leben, von dem Wissen dort profitieren können. Die Mobilitätseinschränkung kommt da natürlich hinzu, zusammen oder verstärkt durch weitere Folgeerkrankungen.
 

Ärzte und Therapeuten vor Ort sollten also verstärkt den Austausch miteinander suchen?

Das ist entscheidend. Es ist ja so, dass wir ohnehin nur wenige Spezialisten für Conterganschädigungen haben. Die allermeisten Ärzte und Ärztinnen hatten damit in der Praxis nie zu tun. Aber: nicht jeder Arzt und jede Ärztin braucht dieselbe Expertise! Sie sollten aber die Möglichkeit haben, diese einzuholen. Angenommen, es liegt ein Bruch einer geschädigten Extremität vor, dann muss der Arzt vor Ort sich informieren können, was sich bei einer Conterganschädigung als Eingriff oder Therapie bewährt hat. Sie können das oft nicht einfach wie einen „normalen“ Bruch behandeln.

Die Schädigungen sind zwar alle einmalig. Die Mechanismen aber wiederholen sich und sind vergleichbar. Beispielsweise haben die Muskeln bei verkürzten Armen andere Funktionen. Dadurch entstehen ganz andere Beschwerden als bei normal gewachsenen Armen. Das hat beispielsweise Einfluss auf die Physiotherapie. Der Physiotherapeut muss also wissen, wie man das angeht und sich an jemanden wenden können, der sich damit auskennt.
 

Das medizinische Wissen und die unterschiedlichen Formen der Erkrankungen sind gestreut. Man muss sie gebündelt dokumentieren.

Das ist jetzt genau unsere gemeinsame Aufgabe. Mit wir meine ich die Geschäftsstelle der Conterganstiftung und die Betroffenenvertretungen. Wir müssen Ärzte, Physio- und Ergotherapeuten gewinnen und sie dann via Fortbildung fit machen, damit sie diese Aufgaben übernehmen können. Auch müssen wir uns aktiv darum kümmern, dass ein Wissen wie etwa das von Dr. Graf nicht verloren geht, wenn er im Ruhestand ist (Privatdozent Dr. med. Dr. med. habil. Jürgen Graf aus Nürnberg, Anmerkung der Red.).

Ärztinnen und Ärzte sind auch nicht unbedingt Betriebswirte, die Verwaltungsstrukturen aufbauen wollen. Viele möchten sich aber einbringen, wollen helfen. Da müssen wir sie unterstützen und ins Boot holen. Die Strukturen dafür müssen wir jetzt herstellen. 
 

Wird das gelingen? Sehen Sie bereits Ansätze?

Es kann auf jeden Fall gelingen. So ist in Nordrhein-Westfalen bereits ein sehr gutes Netzwerk vorhanden. In Hamburg ist ein sehr gutes Kompetenzzentrum entstanden, beide Male vor allem durch Initiative der Betroffenen. In Bayern und Hessen hat es noch nicht gut geklappt, weil wir dort auf zu große politische Widerstände gestoßen sind. Aber jetzt, wo es das Gesetz gibt und die Stiftung dahintersteht, bin ich zuversichtlich.

Es muss eine Graswurzelbewegung werden. Die Menschen mit Conterganschädigung müssen sich mitteilen, wo es welche Ärzte oder Therapeuten, die gut im Thema sind, gibt. Mit denen können wir dann über Weiterbildungen, die in den identifizierten Kompetenzzentren stattfinden, etwas aufbauen. In diese Richtung müssen unsere Anstrengungen jetzt gehen. Es ist ein großes, gemeinsames Projekt.
 

Die Betroffenen sollten also aktiv mitmachen?

Ja. Wir Menschen mit Conterganschädigung haben nun die Aufgabe, passende Partner zu benennen. Die Stiftung muss die verwaltungsrechtlichen und -technischen Dinge klären.
 

Sie haben eben angedeutet, dass Wissens- und Kompetenzverluste durch das Ausscheiden aus dem Ärzteberuf zu befürchten ist. Wie steht es um den medizinischen Nachwuchs?

Hier sind Fort- und Weiterbildung angesagt. Die jüngeren medizinischen Fachkräfte kennen wie gesagt das Thema Contergan kaum. Hierfür müsste man über Fachzeitschriften sensibilisieren und das Thema auf Veranstaltungen platzieren. Ein unterstützender Bereich ist da die Telemedizin, die hier viel Aufklärung leisten kann und Wege spart.
 

Als Psychotherapeutin haben Sie noch mal einen anderen Blick auf die Bedürfnisse von Betroffenen. Welche Rolle spielt die Psychologie?

Eine eigene psychologische Abteilung braucht es in den Kompetenzzentren nicht unbedingt. Dennoch ist es sehr wichtig, auch psychologische Expertise im Netzwerk zu haben. Und zwar eine solche, die sich mit der Psyche von contergangeschädigten Menschen auskennt. Es muss passend sein. Denn auch hier gilt, dass die Betroffenen spezielle Bedarfe haben.

Jeder und jede muss wissen, wohin man sich wendet, wo jemand ist, der helfen kann. Hier muss eine enge Verbindung zu den Selbsthilfeverbänden bestehen. Und wir sollten ambulante Wege suchen, beispielsweise Gruppenangebote für verschiedene Themen im Rahmen gemeinsamer Aufenthalte in barrierefreien Hotels anbieten. Denn den Weg ins Krankenhaus geht niemand gerne. Besonders wir nicht.
 

Warum?  

Viele Betroffene haben schlimme Erfahrungen in Krankenhäusern machen müssen. Die Eltern durften meist nur ein- oder zweimal pro Woche zu Besuch kommen, die Aufenthalte dauerten oft extrem lange Zeit, die Kinder wurden manchmal auch fixiert. Die meisten sind während der Kindheit in „Einrichtungen“ über lange Zeit zum Tragen von schweren untauglichen Armprothesen genötigt worden.
 

Wie geht es jetzt weiter? Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Betroffenenvertreterin?

Die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Betroffenen war ein Hauptanliegen, mich überhaupt zu engagieren. Hier sind wir einen großen Schritt weitergekommen. Der Workshop zum Thema Kompetenzzentren war ein kommunikatives Highlight. Bei der Konkretisierung muss dieser kommunikative Prozess nun weitergeführt werden. Jetzt geht es um die Umsetzung, um die Strukturen, dass wir den Kompetenznetzwerk-Gedanken mit Leben füllen.

Hier möchte ich den Wunsch äußern, dass wir künftig mehr zu einem Miteinander finden und vertrauensvoll zusammenarbeiten, damit wir die Aufgaben gemeinsam angehen können. Das wünsche ich mir wirklich sehr.