Das Bild zeigt einen einzelnen Zahn als Modell vor blauem Hintergrund

„Ich habe durchaus auffällige Abnormitäten festgestellt“

Herr Prof. Dr. Wember-Matthes, wodurch bekamen Sie Zugang zum Thema Contergan?

Durch meine Tätigkeit als Zahnarzt in Praxis und Klinik war ich immer wieder mit contergangeschädigten Patientinnen und Patienten konfrontiert und habe im Zuge dessen durchaus auffällige Abnormitäten festgestellt. Diese Thematik habe ich dann mit Prof. Dr. Peters von der Klinik in Nümbrecht besprochen. Daraufhin war unsere gemeinsame Entscheidung, herauszufinden welche angeborenen Schädigungen durch Thalidomid und welche Probleme postnatal entstanden sind.

Prof. Peters und ich haben daher den Entschluss gefasst, eine systematische Untersuchung des gesamten Mund-Kiefer-Gesichtssystems, inklusiv der Zähne, durchzuführen. Alleine schon deshalb, weil dies bislang nur unzureichend gemacht wurde. Das Ganze hat letztlich den Zweck, den Betroffenen dabei zu helfen, eventuelle Ansprüche und Unterstützungsleistungen zu begründen.

 

Liegt Ihrer Untersuchung eine Arbeitshypothese zugrunde?

Ziel unserer sog. Zahnstudie ist es, durch eine systematische Erfassung der ursprünglichen Schädigungsmuster der Menschen mit Conterganschädigung im Mund,-Kiefer-, Gesichtsbereich herauszufinden, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen den vorgeburtlichen Schädigungen und der heutigen Erkrankung vorliegt oder ob es sich um eine Koinzidenz handelt.

Eine Arbeitshypothese war daher, herauszufinden ob bei der Klientel vermehrt Aplasien, d.h. Nichtanlagen von Zähnen auftraten. Ansonsten gab es keine konkreten Erwartungen, da der Gesamtkomplex Mund-Kiefer-Gesicht-Schädel zu umfangreich ist, um gezielt spezielle Einzelerwartungen zu formulieren.

Andere Untersuchungen oder Studien zu diesem Thema konnten leider nicht herangezogen werden, da die wenigen vorhandenen einen unzureichenden Evidenzgrad besitzen und mehr oder minder anekdotischen Charakter haben. Daher habe ich mit dieser Untersuchungsreihe im Grunde gewissermaßen Neuland betreten.

 

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Zunächst habe ich einen Standarduntersuchungsbogen entwickelt. Im Rahmen von Regeluntersuchungen durch Prof. Peters habe ich dann die Möglichkeit bekommen, die Studie anhand des Untersuchungsbogens durchzuführen.

Die Untersuchung umfasst einmal eine strukturierte Befragung jeder Teilnehmerin und jedes Teilnehmers mittels eines Fragebogens. Zudem erfolgt eine körperliche und funktionelle Untersuchung des sogenannten stomatognathen Systems. Das ist die komplexe Einheit, die aus dem Gebiss mit allen Zähnen und dem kompletten Mund- und Kiefersystem inklusive der Kiefergelenke besteht.

Ergänzend habe ich in den meisten Fällen – natürlich nur auf freiwilliger Basis – eine Röntgenuntersuchung mittels eines Orthopantogramms (zweidimensionales Röntgenbild, Anm. d. Red.) durchgeführt. Um eine Verzerrung aufgrund ungleicher Zusammensetzung der Vergleichsgruppen zu vermeiden, wurden alle Personen nur von einem Untersucher befragt.

 

Was wird durch den Fragebogen erfasst?

Der Fragebogen umfasst im Wesentlichen die Erfassung des Grundbefundes der oder des Betroffenen mit den jeweiligen organischen Schädigungsmustern. Zudem eine funktionelle Analyse, dann die Analyse eines Schmerzerlebens und der Schmerzqualität sowie den Versuch einer Bewertung der Lebensqualität des Patienten oder der Patientin.

 

Gibt es typische Erscheinungen, mit denen die Klientel hauptsächlich zu tun hat?

Schon bei der extraoralen, äußerlichen Inspektion fallen die Dysgnathien auf, also angeborene oder erworbene Fehlbisse. In vorhergehenden Studien, wie zum Beispiel die Heidelberger Studie von 2012, wird nur allgemein von Kieferfehlbildungen gesprochen. Bis auf einen Fall eines "Unterbisses" durch einen hervorstehenden Unterkiefer, habe ich nur Überbisse des Oberkiefers diagnostizieren können.

Im Bundesdurchschnitt treten bei sechs Prozent der Bevölkerung solche Dysgnathien auf, in unserem Patientengut sind es tatsächlich 21,7 Prozent. Das ist etwas mehr als jede fünfte Person aus dem Kreis der Betroffenen, was an sich schon sehr bemerkenswert ist. Allerdings liegt der Progenie ein multifaktorielles genetisches System zugrunde. Hier kommt also die Summe an genetischen und umweltbedingten Einflüssen zum Tragen.

 

Kann diese Häufung an Fehlbissen mit den Schädigungen durch Thalidomid zusammenhängen?

Es tut sich zumindest die Frage auf: Mit welchen anderen Veränderungen sind diese Dysgnathien vergesellschaftet? So fällt zum Beispiel auf, dass in dieser Gruppe – also diesen über 21 Prozent – auch viele Hörgeschädigte zu finden sind.

Hingegen können wiederum Aplasien, also die Nichtanlage von Zähnen, nur in 5,3 Prozent der Fälle festgestellt werden. Im Bevölkerungsdurchschnitt liegen diese etwa auf demselben Niveau, bei 5,5 Prozent. Somit ist unsere erste Arbeitshypothese bezüglich vermehrt auftretender Aplasien bei Contergangeschädigten nicht bestätigt worden.

 

Viele Menschen mit Conterganschädigung haben ihre Zähne auch anders eingesetzt, als nur zum Kauen …

Richtig. Daher kam bei der Frage „Benutzen Sie Ihre Zähne nicht nur zum Kauen?“ fast zu 100 Prozent das Feed-Back, dass die Betroffenen sie auch zum Halten von Gegenständen, zum Flaschenöffnen, Tütenöffnen usw. benutzen – was für die Zähne ein Trauma bedeutet und zu starker Abnutzung führt.  Folgerichtig geben 33,7 Prozent einen vermehrten Zahnverschleiß an. Dieser ist wiederum bei Fehlbildung der Extremitäten erwartungsgemäß häufiger anzutreffen. So bei 38 Prozent der Zweifachgeschädigten, 35,9 Prozent bei Vierfachgeschädigten, während es bei Menschen ohne Dysmelie lediglich 14,3 Prozent sind.

Letzteres möchte ich gerne intensiver hinterfragen, da wir zu wenige Probandinnen und Probanden aus dieser Gruppe haben, diese jedoch durchweg angeben, dass bei ihnen aufgrund einer Myasthenie und/oder Neurasthenie eine Einschränkung der Greifkraft und des Bewegungsmusters vorliegt.

 

Gibt es weitere signifikante Auffälligkeiten?

Ja. Eine weitere Frage war die nach sogenannten Habits, also Gewohnheiten wie Knirschen und Pressen. Hier geben 62 von 100 an, dass sie nachts mit den Zähnen knirschen. 75,3 pressen die Zähne aufeinander, vornehmlich tagsüber, bei Konzentrationen und Anstrengungen. Auch das bedeutet ein Trauma für die Zähne. Hier wissen wir jedoch gesichert, dass diese Habits nur zu einem geringen Maß funktionell bedingt und größtenteils psychogen sind. Über die psychologische Situation der Contergangeschädigten wurde und wird allerdings andernorts geforscht und berichtet.

Wiederum bin ich positiv beeindruckt von der guten zahnärztlich-restaurativen Situation. Die Patientinnen und Patienten sind durchweg gut mit Kronen und Brücken versorgt, um die für sie strategisch wichtigen Zähne funktionsfähig zu erhalten.

Wo Zähne verlorengegangen sind, wurden die Lücken häufig mit Implantaten versorgt, die eine sinnvolle Hilfe bei den Aktivitäten mit den Zähnen sind, da sie ein festes Widerlager bei Belastungen darstellen. Interessanterweise ist wiederum bei den Gehörlosen die Frequenz von Zahnersatz am häufigsten.

Allerdings, Zähne müssen immer auch adäquat gepflegt werden, was unter Umständen für die Betroffenen ohne fremde Hilfe sehr schwierig sein kann.

 

Ihre Untersuchungen laufen weiter. Kann man jetzt schon Konsequenzen für die zahnärztliche Praxis ziehen?

Die vorläufige Quintessenz zeigt, dass noch viele Fragen offen sind. Aber ich möchte mit den gewonnenen Ergebnissen den Geschädigten eine adäquate, qualitativ gute Versorgung ermöglichen. Es geht darum, ihre Lebensqualität zu verbessern, das Schmerzerleben zu mindern und ein ästhetisch-funktionelles Optimum zu erzielen.

Um die Menschen mit Conterganschädigung zu versorgen wäre es für Behandelnde wie Betroffene hilfreich, Kenntnisse über neurophysiologische und anatomisch-funktionelle Abweichungen informiert zu sein und psychologisch-empathisch mit diesen Mitmenschen umzugehen, da im Laufe ihres Lebens Traumata auf vielen Ebenen entstanden sind.

Leider ist das Interesse in der zahnärztlichen Kollegenschaft äußert gering, der Aufklärungsbedarf allerdings sehr groß.

 

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