Das Bild zeigt Helen Müller bei ihren Biokinematik-Übungen

„Ich habe immer gesagt: Ich schaffe das. Ich finde einen Weg aus meinen Schmerzen!“

Helen Müller steht nicht gerne im Vordergrund. Doch wie alle Menschen mit Conterganschädigung hat sie ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte aus Schmerzen und wie man ihnen mit einer alternativen Therapie begegnen kann.

 

Immer wieder haben wir in den vergangenen zwei Jahren Menschen mit Conterganschädigung persönlich vorgestellt. Die meisten von ihnen waren Vorsitzende von Interessenverbänden, in Kunst und Kultur aktiv, haben auffällige bis ungewöhnliche Hobbys oder haben ihre Lebensgeschichte veröffentlicht und damit ein breites Publikum erreicht. Es gibt aber auch die anderen. Die Stilleren und weniger Bekannten. Eine von ihnen ist die Freiburgerin Helen Müller. Doch im Stillen ist auch sie eine Kämpferin.

„Ich war immer schnell, ich war immer fit“, sagt Helen Müller über ihre Kindheit und Jugend. „Oft war ich eine der ersten, die beim Sport ins Team gewählt wurde.“ Diese Fitness, vor allem in den Beinen, übernahm sie auch mental. Obwohl ihr die Arme fehlen und Contergan ihr nur rudimentäre Finger und Hände gelassen hat, blieb sie immer aktiv und selbstbewusst. Sie brachte sich bei, die Hände zu ersetzen: „Ich habe gelernt, so gut wie alles mit Beinen und Füßen zu machen.“ Und dies, wie sie sagt, mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit.

 

Arbeit mit geistig behinderten Menschen

Helen Müller ist in Mayen in der Eifel geboren und in Koblenz aufgewachsen, bevor es sie Ende der Neunzigerjahre schließlich nach Freiburg im Breisgau verschlug, nachdem sie sieben Jahre „in der Pampa“ gearbeitet hatte. „Ich wollte wieder in die Stadt. Ich wollte mehr sehen, mehr machen und nutzen können kulturell und freizeitmäßig.“ Viele Jahre hat sie beruflich als Erzieherin mit Kindern mit einer geistigen Behinderung gearbeitet und leitete eine heilpädagogische Kindergruppe in einer anthroposophischen Einrichtung.

Ihre eigene Beeinträchtigung war dabei durchaus hilfreich: „Ich habe durch meine eigene Behinderung eine andere Sensibilität für diese Menschen mitgebracht. Das habe ich immer wieder gemerkt. Und das war eine Arbeit, die ich sehr gerne gemacht habe.“

 

Ein „schnell schleichender Prozess“

Wie bei allen Menschen mit Conterganschädigung hat auch Helen Müller nun schon seit einigen Jahren mit Folgeerkrankungen zu kämpfen, die sich neben den üblichen Alterserscheinungen verstärkt bemerkbar machen. Sie potenzieren die Schmerzen und die körperlichen Probleme. Füße und Beine, ehedem die Garanten für ein gewisses Maß an Autonomie und Selbstständigkeit, verweigerten zunehmend ihren Dienst. Auch der Rücken, jahrzehntelang besonderen, angepassten Bewegungsabläufen und Belastungen ausgesetzt, reagierte nur noch mit Schmerzen.

„Mein Lendenwirbel macht mir Probleme“, erzählt sie. „Ob beim Aufstehen, Gehen oder beim Liegen. Das Gehen ging irgendwann fast gar nicht mehr.“ Bei diesen Schmerzen war es nicht mehr möglich, mit Kindern zu arbeiten. So ließ sie sich bereits mit 49 Jahren schweren Herzens verrenten. Doch das löste die gesundheitlichen Probleme nicht.

„Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Mein Rücken, meine Hüfte, meine Knie und meine Oberschenkel waren ein einziges Katastrophengebiet.“ Es kam sehr schnell eins zum anderen. In der Rückschau ein „schnell schleichender Prozess“, wie sie es nennt. Und das trotz – oder wegen? – ständiger Aktivität und Maßnahmen wie Krankengymnastik und Reha-Kuren, die nur kurzfristige Erleichterung brachten. Mit 56 Jahren konnte sie fast nicht mehr laufen. Was tun?

Die Schäden an Rückenwirbel und Hüftknochen waren von Geburt an da. Mit ihnen lebte Helen Müller von Anfang an. Auch die Diagnose Hüftarthrose ist schon älter. „Der untere Lendenwirbel hat mir schon früh in meinem Leben Schwierigkeiten gemacht. In meinem mittleren Lebensabschnitt ging es sehr gut, bis er sich ca. in meinem 48. Lebensjahr wieder sehr massiv meldete“, berichtet sie. Die jahrelange Überbeanspruchung der unteren Extremitäten tat dann ihr Übriges.

 

Die Entscheidung: keine Operationen

Was sagten ihre Ärzte? „Es hieß, ich bräuchte eine neue Hüfte. Okay, dachte ich und habe mich erkundigt, was das bedeutet, wie die Operation laufen würde.“ Doch die Aussichten waren nicht überzeugend. Man konnte ihr nicht garantieren, dass sie ihre alte Beweglichkeit mit künstlicher Hüfte wiedererlangt. „Mir war klar, wenn ich meinen rechten Fuß nicht mehr bis zum Kopf führen kann, bringt mir das nichts.“ Diese Beweglichkeit, die immer auch ein Maß an Selbstständigkeit mit sich gebracht hatte, wollte sie nicht gefährden. Also: keine Operation! „Ebenfalls sagte man mir, ich bräuchte eine Rücken-OP, Versteifung des unteren Lendenwirbels. Auch da war mir klar, dass dies keine Option ist!“

Entgegen der ärztlichen Ratschläge war sich Helen Müller sicher: „Ich finde einen Weg! Ich werde mich wieder bewegen können! Ich war immer ein von Grund auf positiver Mensch. Ich bin in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen und hatte alles, was ich brauchte. Ich habe gelernt, wenn ich mich bewege, kann ich was erreichen. Man muss einfach dranbleiben, daran glauben und Neues ausprobieren.“

 

Die Lösung: Biokinematik

Helen Müller informierte sich, schaute sich um, recherchierte. „Eine Freundin erzählte mir dann von Dr. Walter Packi in Bad Krozingen, also nicht weit von Freiburg entfernt, der eine Methode entwickelt habe, die sich Biokinematik nennt.“ Das klang vielversprechend. Denn auf der Website der Praxis heißt es: „Die Biokinematik gründet auf der Erkenntnis, dass chronische Schmerzen […] durch krankhafte Veränderungen des Bewegungsapparats entstehen. […] Ziel ist es, die Muskulatur wieder in ihren ursprünglichen, gesunden Zustand zu versetzen. Dadurch kann sich der Körper wieder in seinen natürlichen Bewegungsbahnen fortbewegen und die Schmerzen gehen zurück.“ Überzeugt von diesem ganzheitlichen Ansatz suchte sie schließlich die Praxis auf.

Ganz so einfach war die Sache aber nicht. „Ich hatte inzwischen durch Schonhaltung ziemliche Fehlstellungen entwickelt und ging bereits stark nach vorne gebeugt“, erzählt sie. Nach einer ärztlichen Untersuchung und einer Therapiestunde, empfahl man ihr für eine Woche stationär zu kommen. So ging Helen Müller für eine Woche in die Klinik, um dem über Jahre gewachsenen Grundproblem auf die Spur zu kommen. Bei der Anamnese spielten dabei weniger die Röntgenbilder als der Bewegungsapparat und sein gegenwärtiger Zustand eine Rolle.

Trotz aller Zuversicht, es würde kein Zuckerschlecken werden, hatte man ihr angekündigt. Sie würde durch Schmerzen gehen müssen, um in vielen kleinen Schritten ihrem Körper wieder beizubringen, bewegungsfähig zu werden. Die Schmerzen wanderten regelrecht durch ihren Körper: „Wenn es im Rücken besser wurde, wurde es in den Beinen schlimmer, dann wieder in den Knien besser und dafür schmerzte es in der Hüfte.“ Aber Helen Müller merkte: da passiert etwas. Es würde sich lohnen. Und ihr Gefühl war richtig. Nach der „Intensivtherapie“ wurde sie weiter ambulant behandelt, „weil ich gemerkt habe, wie gut mir das tut“.

 

Die Nachteile: Keine Kassenleistung und der innere Schweinehund

Der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Auch heute noch hat Helen Müller Schmerzen. Sie kommen immer wieder, aber sie sind anders. Die „einschießenden Schmerzen“ kommen seltener. Die Schmerztabletten hat sie abgesetzt. Die Tage, an denen sie sich gar nicht mehr bewegen kann, sind fast vorbei, und sie hat wieder mehr Aufrichtung in ihren Körper bekommen. „Alle zwei Wochen gehe ich ambulant in die Praxis. Es sind nur wenige Übungen, die ich zu Hause selbst machen soll [siehe Fotos]. Und das am besten ganz regelmäßig! Allerdings bin ich nicht gut in Sachen Disziplin. Der innere Schweinehund stört“, gibt sie zu.

In jedem Fall kann sie Menschen mit chronischen Schmerzen – ob mit oder ohne Conterganschädigung – den Ansatz der Biokinematik nur empfehlen. Zwei Nachteile habe die Therapie: Da das Prinzip noch sehr jung ist, gibt es bislang nur diese eine Praxis in Bad Krozingen, und die Krankenkassen zahlen die Behandlung trotz medizinisch-wissenschaftlicher Belegbarkeit ihres Erfolges nicht. „Ich habe also Glück, dass ich nur etwa 20 Kilometer fahren muss“, freut sich Helen Müller. „Allerdings wäre ich auch weitergefahren, weil es sich lohnt.“

Was wiederum das Geld betrifft, so müsse man eben abwägen, was einem die Aussicht auf eine bessere Gesundheit und ein schmerzreduziertes Leben wert sei. Zusätzliche Hilfe kam für Helen Müller von unerwarteter Seite: Mit Erfolg wandte sie sich an die Grünenthal Stiftung, die unbürokratisch eingesprungen sei. Die Grundfröhlichkeit, das Positive hat sich Helen Müller immer erhalten: „Meine Zufriedenheit, Fröhlichkeit und meine positive Sicht in die Zukunft werden mir auf meinem weiteren Weg helfen!“

 

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Klinik für Biokinematik

 

 

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