Peter Braun bei einer Veranstaltung der Nothilfe

„Ich sage Ihnen: Jeder Mensch hat Fähigkeiten“

Peter Braun hat diverse Conterganschädigungen. Aber davon will er sich nicht einschränken lassen. Der studierte Sozialpädagoge und Psychotherapeut widmet sich seit 20 Jahren einer besonderen Aufgabe: Als Vorsitzender der Medizinischen Nothilfe Albanien sorgt er dafür, dass es den Bedürftigen in Albanien, eines der ärmsten Lander Europas, ein bisschen besser geht. Ein Gespräch über soziales Engagement und Korruption, den Wert des Menschen und darüber, wie man die Dinge trotz widriger Umstände verändern kann.

 

Herr Braun, es ist zwar nicht unser zentrales Thema. Aber können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Conterganschädigung sagen?

Ich habe verkürzte Arme. Sozusagen die „klassische Form“, wie man sich einen Contergangeschädigten vorstellt. Dann habe ich eine Hörschädigung. Mein rechtes Ohr, genauer gesagt das Innenohr, ist nicht richtig angelegt. Mein Hörvermögen war ursprünglich relativ gut. Aber vor etwa zehn Jahren musste ich dann operiert werden. Die Folge war, dass sich der Hörnerv „verabschiedete“. Die 18-stündige Operation hat der Nerv nicht überstanden. Heute höre ich nur noch auf der einen Seite. Außerdem habe ich noch diverse Augenprobleme.

 

Derentwegen Sie zuletzt noch in Behandlung waren?

Ja. Ich war tatsächlich drei Tage lang blind. Der Glaskörper musste wegen einer Trübung ausgetauscht werden. Die gallertartige Flüssigkeit ist dann ersetzt worden durch eine künstliche Masse, die sich Stück für Stück wieder abbaut und durch körpereigenes Gewebe ersetzt wird.

Wenn ich irgendwo in einem Drittland leben würde, dann wäre ich jetzt blind. Das konnte wirklich nur behoben werden, weil wir in Deutschland fachlich so gut ausgebildet sind. Und – so paradox es klingt – auch mit meiner Conterganschädigung lebe ich im bestmöglichen Land. 

 

Das führt uns direkt zu Albanien. Ein Land, für dessen kranke Menschen Sie sich seit Jahren engagieren. Wie kam es dazu?

Das ist eine interessante Geschichte. Ich bin von Beruf Psychotherapeut und Sozialpädagoge und hatte damals eine Firma für Coaching und Beratung. Im Zuge dessen war ich auf einem Kongress zu einem Vortrag geladen. Der damalige Vorsitzende der Hilfsorganisation MNA (Medizinische Nothilfe Albanien e.V.) hat mich angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, in Albanien eine Schulung zu halten. Erst habe ich gezögert. Aber dann habe ich irgendwann gesagt: Okay, ich komme mal mit.

 

Bei dem einem Mal ist es offenbar nicht geblieben.

… aufgrund von zwei Schlüsselerlebnissen. Ich habe dort erlebt, wie schlecht die medizinische und therapeutische Versorgung und wie miserabel die Situation gerade von Menschen mit Behinderung in Albanien ist. Das hat mich innerlich so bewegt, dass ich mich starkmachen wollte für diese Menschen, die im Grunde genommen kein Sprachrohr haben. Es gab damals keinerlei Geld dafür. Nichts! Und noch immer ist es so, dass es viel zu wenig Mittel für Menschen gibt, die – sagen wir es ganz krass – wirtschaftlich keinen Nutzen für die Gesellschaft bieten.

 

Eine harte Sichtweise.

Exakt. Und mir ist sie fremd. Ich sage Ihnen: Jeder Mensch hat Fähigkeiten. Jeder Mensch ist eine einzigartige Persönlichkeit. Egal woher er kommt, egal was für eine Einstellung er hat, welches Geschlecht, welche politischen oder religiösen Vorstellungen er lebt – oder ob er ein Handicap hat. Allein, weil es ein Mensch ist, gehört es sich, dass man mit ihm würdevoll umgeht. Zudem hat jeder Mensch ein Recht auf Bildung, auf Förderung und Anerkennung. Das gilt nicht nur für Albanien, sondern generell.

Wie gesagt, es ist ein Geschenk, dass wir in Deutschland leben und von all diesen Vorteilen profitieren. Die habe ich nicht geschaffen, sondern da bin ich hineingeboren worden. Daraus und aus meinem christlichen Menschenbild beziehe ich meine Grundmotivation. Ich kann helfen und teilen – also tue ich es.

 

Wann waren Sie zum ersten Mal in Albanien?

Oben erwähnter Vortrag war vor über 20 Jahren. Ab dann bin ich regelmäßig nach Albanien geflogen. Bis die Arbeit sich so weit etabliert hatte, dass ein kleines Rehabilitationszentrum dort entstanden ist, mit albanischen und deutschen Mitarbeitenden. Heute sind es 11 qualifizierte albanische Mitarbeitende. Nach einer gewissen Zeit habe ich gemerkt, dass ich eigentlich gerne im Vorstand mitarbeiten würde. So war ich erst sechs Jahre Vorstandsmitglied, bevor ich gefragt wurde, ob ich Vorstandsvorsitzender werden möchte. Das bin ich nunmehr ehrenamtlich seit acht Jahren.

 

Können Sie uns ein bisschen über das Land Albanien erzählen? Es galt ja als „Armenhaus Europas“.

Albanien ist eines der ersten christianisierten Länder. Schon Paulus schreibt im Römerbrief, dass er eine Missionsreise zu den Illyrern machte; die Albaner bezeichnen sich heute noch als „Illyrer“. Im Grunde war Albanien fast nie ein freies Land. Kulturell und religiös gab es unter der Besetzung durch die Osmanen (über 400 Jahre) die stärkste Veränderung. Aber vor allem im 20. Jahrhundert wurde es politisch hin- und hergerissen, war immer wieder besetzt und nie eigenständig. Mal warf man sich an die Sowjetunion, dann band man sich an China, am Ende war Albanien vollkommen isoliert. Unter dem Diktator Enver Hoxha wurden die Landesgrenzen dichtgemacht. Es gab so gut wie keine wirtschaftlichen Beziehungen ins Ausland. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks herrschten große Armut und Orientierungslosigkeit.

 

Deshalb auch der Begriff „Nordkorea Europas“?

Keiner konnte rein oder rausschauen. 1989/90 gab es dann auch in Albanien die ersten Umbruchbewegungen. Bei der Öffnung stellte sich dann heraus, dass im Grunde keinerlei tragfähige Infrastruktur vorhanden war, auf denen man aufbauen konnte.

 

Die Medizinische Nothilfe Albanien konnte also keine vorhandenen Ressourcen nutzen?

Nein. Zurückgreifen konnten wir damals auf nichts. Die ersten, die dort hingekommen sind, waren Ärzte. Die hatten von der Not in Albanien gehört und sich teils privat auf den Weg gemacht, um die Menschen medizinisch zu versorgen. Wir haben selbst noch mit einer „Helikopter-Mission“ aus der Schweiz zusammengearbeitet. Die Infrastruktur war damals so schlecht, viele Dörfer waren abgeschnitten, dass man sie gar nicht anders als mit einem Hubschrauber erreichen konnte. Es gab Kranke, die seit 40 Jahren keinen Arzt gesehen hatten. Die innere und äußere Not der Menschen war unvorstellbar.

 

Reicht angesichts dessen punktuelle Hilfe aus?

Es war unglaublich tragisch. Jedenfalls merkten wir schnell: Es macht keinen Sinn, nur gelegentlich mal vor Ort zu sein. Wir brauchten ein festes Standbein dort. So ist dann allmählich die Medizinische Nothilfe Albanien entstanden. Es gab ein paar Leute, die sich sogar verpflichtet haben, längere Zeit in Albanien zu bleiben und dort etwas aufzubauen. Unter anderem eine Orthopädietechnikerin, die die erste albanische Orthopädiewerkstatt aufgebaut hat. Aktuell ist unsere Werkstatt noch die einzige. Wir produzieren heute Prothesen, Orthesen, Korsette usw. für ganz Albanien. Das Kuriose ist, das Berufsbild des Orthopädietechnikers gibt es dort gar nicht. Seit 15 Jahren versuchen wir, es zu etablieren.

 

Orthopädie ist sicherlich nur ein Teilbereich der Hilfen?

Inzwischen gibt es verschiedene Bereiche bei uns. Als Vorstandsvorsitzender war mir schon aufgrund meiner Conterganschädigung der Behindertensektor ganz wichtig. Eine Abteilung in unserem Rehabilitationszentrum ist für Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung zuständig. Dann haben wir gesagt: Wir brauchen eine Frühförderung. Eine Abteilung, mit der wir bereits möglichst früh die Kleinsten fördern, damit sie relativ selbständig leben können. Da gibt es momentan Pilotprojekte. Parallel dazu bearbeiten wir Felder wie Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie und Sozialarbeit.

Ein zentrales Problem in Albanien ist nach wie vor die Korruption, auch im medizinischen Bereich. Die Leistung eines Arztes bezahlt der – oft meistbietende – Patient. Eine gesetzlich vorgeschriebene Krankenkasse gibt es nicht. Es gibt zwar eine Sozialhilfe für Familien mit schwerbehinderten Menschen. Allerdings sagen Sachbearbeitende dann oft: „Gib mir mal ein-zwei Monatsgehälter, schon ist der Antrag genehmigt.“ Ein durchschnittliches Gehalt in Albanien liegt bei ca. 190 Euro. Also so gut wie gar nichts, was man für solche Fälle zur Seite legen kann. Es gibt allerdings auch sehr reiche Menschen in Albanien – sonst gäbe es in Tirana keine Ferrari-Niederlassung.


Wie finanziert sich die Medizinische Nothilfe?

In Deutschland sind es in erster Linie private Spenden. Unterstützt werden wir aber auch über Stiftungen, EU-Gelder oder über die Industrie, also durch Hersteller, Zulieferer oder themennahe Unternehmen. Durch Corona, den Ukraine-Krieg, die politische und wirtschaftliche Verunsicherung ist die Spendenbereitschaft allerdings zuletzt stark eingebrochen. Aktuell ist die Zukunft unserer Arbeit in Albanien sehr unsicher.

Wir versuchen aber, möglichst vor Ort zu generieren, das heißt letztlich Hilfe zur Selbsthilfe zu etablieren. Momentan wird das, was wir an Ausgaben haben, etwa zu 40 Prozent im Land selbst generiert. Unterstützung kommt auch zunehmend durch die Politik. Auf der einen Seite über Förderungen, die im Land angezapft werden oder über Teilfinanzierungen für die direkte Unterstützung der Bedürftigen. Die Patientinnen und Patienten zahlen immer einen angemessenen Betrag selbst. Die Reichen allerdings müssen ganz zahlen.

 

Gibt es denn auf politischer Seite den Willen, den Sozialstaat auszubauen?

Absolut. Ministerpräsident Edi Rama ist jetzt seit zehn Jahren im Amt und macht das in meinen Augen wirklich sehr gut. Er ist sichtlich bestrebt, ein demokratisches und sozialeres Land zu schaffen und Anschluss an die EU zu kriegen. Es ist natürlich unheimlich schwierig, in einem korrupten Land gegen die Korruption anzugehen. Aber Edi Rama packt es zumindest an.

 

Sehen Sie Albanien auf dem Weg zu einer Art Schwellenland?

Ja, definitiv. Albanien spielt ja im europäischen Kontext eine größere Rolle als vor zehn oder 15 Jahren. Inzwischen ist es so etwas wie das kleine Musterland geworden. Eins, von dem die Leute sagen, da müssen wir unbedingt noch hin, bevor es zum Hype wird. Aber wir haben dort trotzdem immer noch einen ziemlich weiten Weg vor uns, soviel ist auch klar.

Mehr Infos zur Medizinischen Nothilfe Albanien (MNA) unter: https://www.mna-ev.de/de/

 

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