Buch "Leben mit Contergan"

Buchvorstellung: „Leben mit Contergan“

Der größte Arzneimittelskandal der Bundesrepublik liegt nun mehr als sechs Jahrzehnte zurück. Wie ist es den damaligen „Contergan-Kindern“ ergangen, was geschah in der Zwischenzeit, was machen sie heute? Welche gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekte tangieren der Conterganskandal und dessen Folgen? Diesen und weiteren Fragen geht Christina Ding-Greiner im von ihr herausgegebenen Buch „Leben mit Contergan“ nach. Dabei kommen Betroffene und deren Familien ebenso zu Wort wie Expertinnen und Experten. Die Medizinerin Ding-Greiner legt damit eine umfassende Bestandsaufnahme vor, die in dieser Form ein Novum ist.

 

Viele Aspekte – ein Thema

Der Band trägt den Untertitel „Geschädigte, Angehörige und Freunde berichten über die Auswirkungen des Arzneimittels“. Jedem der insgesamt 17 Kapitel ist ein einleitender, einordnender Text von Herausgeberin Ding-Greiner vorangestellt. Die einzelnen Abschnitte thematisieren dann in unterschiedlicher Gewichtung Kindheitserlebnisse, den Alltag von Geschädigten und deren Familien oder beleuchten einzelne Lebensphasen. So kommen Alltagssituationen, Lebenshürden, Barrieren und Problemlösungen in den Blick. Alles mit Nähe und Empathie für die Betroffenen. Darum kann die Verarbeitung persönlicher Situationen auch bis hin zu Gedichten reichen, die das Buch abschließen.

Neben den biografischen Einblicken finden sich auf den gut 330 Seiten auch wissenschaftliche Erörterungen von Teilaspekten des medizinischen und gesellschaftlichen Themas Contergan. So erfährt der Lesende etwas zur Wirkungsweise des Inhaltstoffs Thalidomid, zu direkten Schädigungen und deren Langzeitfolgen sowie zu dem gesellschaftlichen Umgfeld, in dem der Conterganskandal stattfand.

 

Direkt und indirekt Betroffene erzählen

Einige Betroffene schildern ihre Kindheitserlebnisse. Und diese Erinnerungen fallen durchaus ambivalent aus: Oft sind sie geprägt von Klinikaufenthalten, Operationen oder Hänseleien durch andere Kinder. Doch auch schöne Erinnerungen werden geteilt. So berichtet ein Betroffener von stundenlangem Spielen im Freien, von netten Schulkameraden und einem liebevollen Elternhaus. Heute arbeitet er erfolgreich als Oberarzt in einer Klinik.

Dass auch Angehörige von Contergan betroffen sein können, ohne direkt Geschädigte zu sein, berichtet der Bruder einer Betroffenen. Er schildert, wie schwer es für ihn war, sich als nicht selbst Betroffener dennoch einzugestehen, dass die Schädigung des Bruders auch auf sein Leben einwirkt. Er habe mit Widerstand zu kämpfen gehabt und sich die Frage gestellt, inwiefern er als Bruder eine Beeinträchtigung durchlebt hat. So habe die ganze Familie gelitten – jeder und jede auf eigene Art.

Auch kommen ganze Familien zu Wort, wobei es durchaus zu unterschiedlichen Bewertungen kommen kann. So berichtet eine Geschädigte von ihrer Kindheit, den vielen Untersuchungen und Operationen und wie sie heute noch mit den Traumata aus dieser Zeit kämpfen muss. Ihr Vater resümiert: „Ich glaube, dass sie trotz der vielen Krankenhausaufenthalte eine schöne Jugend hatte.“

 

Von Gehörlosigkeit und „Mütterdilemma“

Das Thema Gehörlosigkeit bei Menschen mit Conterganschädigung erhält ein eigenes Kapitel. Kommunikationsprobleme spielen dabei eine zentrale Rolle. Der Beitrag eines Betroffenen wurde in Gebärdensprache erzählt und von einer Dolmetscherin in Schriftsprache übertragen. Seine Mutter und die drei Schwestern ergänzen seinen Bericht durch ihre eigenen Erzählungen und Erinnerungen.

Heute haben Menschen mit Conterganschädigung oftmals mit psychischen Problemen, Folgeerkrankungen und Schmerzen zu kämpfen. Der Erhalt von Lebensqualität und die Versorgung im letzten Lebensdrittel spielen für sie eine entscheidende Rolle für die gegenwärtige Lebensplanung. So widmet sich der Band auch diesen Themenbereichen in jeweils einzelnen Kapiteln.

Christina Ding-Greiner ist mit ihrem Buch ein thematischer und stilistischer Mix zum Thema gelungen, den es so umfassend und erhellend noch nicht gibt. Ein Kompendium, eine Bestandsaufnahme, die einerseits biografisch nahbar, andererseits wissenschaftlich gründlich ist. Insofern auch eine fundierte Einstiegslektüre für (jüngere) Menschen, die sich erstmals mit dem Thema Conterganschädigung befassen.

Ding-Greiner, Christina (Hrsg.): „Leben mit Contergan. Geschädigte, Angehörige und Freunde berichten über die Auswirkungen des Arzneimittels.“, 2022, Kohlhammer Verlag Stuttgart, 29 Euro.

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