Das Bild zeigt ein Schneidebrett mit Petersilie und einer Zitrone sowie gekochte Nudeln

Selbst kochen gehört dazu

Das Projekt gibt es schon seit einigen Jahren. Das Problem, dem es sich widmet, ist aber älter. Die Rede ist vom selbstständigen Kochen für Menschen mit Behinderung. Wie kann es gelingen, dass diese Menschen möglichst autonom und eigenständig ihr Essen zubereiten?

Dieser Frage ist vor 15 Jahren eine Initiative des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung in Baden-Württemberg nachgegangen. Unter dem Motto „Auf eigenen Füßen stehen“ entstand so ein erfolgreiches Projekt, das Menschen mit Behinderung Ideen, Tipps und Rezepte auf den Weg gibt, die das Selberkochen erleichtern. Wir haben mit der Initiatorin und langjährigen Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl gesprochen.

 

„Kochen kann ich auch!“

„Wir wollen Tricks und Kniffe vermitteln, mit denen man abgesehen von praktischen Küchenhelfern und anderen Hilfsmitteln ohne große Unterstützung einfache, leckere, gesunde und kostengünstige Gerichte zubereiten kann“, so fasst Jutta Pagel-Steidl das Vorhaben zusammen. Auf der Website des Projekts www.kochen-kann-ich-auch.de finden sich inzwischen gut 150 verschiedene Rezeptanleitungen. Außerdem Infos fürs „Rundherum“ der Küche – von Hygienetipps bis zu behindertengerechten Messern, Apfelschälern, Schneidebrettern und Co.

Auslöser für das Projekt waren Eltern von Kindern mit Behinderung, die sich Sorgen um ihren Nachwuchs machten, der auf dem Weg in ein selbständiges Leben und Wohnen war. Würden sie klarkommen? Wie sähe das Leben außerhalb des wohlbehüteten Elternhauses aus? „Mein Kind kann ja nicht mal kochen“, sei eine der zentralen Aussagen gewesen, sagt Pagel-Steidl. So war gleichzeitig der Projektname geboren. „Zu Beginn der Projektphase haben wir festgestellt, dass Kochkurse, etwa in der Erwachsenenbildung, überhaupt nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgerichtet waren. Hier wollten wir ansetzen: Was braucht ein Mensch mit Behinderung eigentlich, um selber kochen zu können?“

Auch wenn der Ansatz von „flügge werdenden“ jüngeren Menschen ausging, so rückten immer mehr auch Ältere, auch solche mit einer Conterganschädigung, in den Fokus. Denn die Problematik ist weder eine des Alters noch die einer spezifischen körperlichen Einschränkung.

 

Auf das Tempo achten und die Schritte besser erklären

Die Medienlandschaft ist zwar voll von Koch- und Ernährungstipps. Täglich gibt es Kochsendungen im Fernsehen, gedruckte Ratgeber für eine ausgewogene Ernährung und jede Menge Tipps für scheinbar jeden Bedarf im Netz. Eben nicht, fanden Pagel-Steidl und ihre Projektpartnerinnen und -partner schnell heraus: „Die üblichen Kochbücher, Kochshows oder Rezeptsammlungen im Internet sind auf Menschen ohne Behinderung ausgelegt. Für Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen fand ich damals quasi nichts. Sie gingen entweder leer aus oder waren auf Assistenzen oder Helfer angewiesen.“ Abgesehen davon, dass viele Rezeptanleitungen zu komplex waren. Und zudem mitunter zu kostspielig für Menschen, die von geringen Einkommen oder Sozialleistungen leben müssen.

„Wir sind niederschwellig herangegangen und davon ausgegangen, dass mitunter keine Vorkenntnisse vorhanden sind“, erläutert Pagel-Steidl. „Sie lesen etwa ‚Zwiebeln klein schneiden‘ oder ‚Kartoffeln schälen‘. Davon mögen die meisten eine Vorstellung haben, wir haben aber von vorne angefangen und dabei jeden Schritt und Zwischenschritt gezeigt, der sonst als Voraussetzung gilt.“ Dasselbe betrifft auch Küchengeräte, Schneidebretter oder Waagen. Auf der Projekt-Website finden sich daher auch Hygieneregeln und allgemeine Küchentipps sowie Hinweise zum Erwerb von Hilfsmitteln, speziellem Essgeschirr oder -besteck.

 

Einfach, preiswert und machbar ist die Devise

„Wir wollten alle einzelnen Schritte ganz genau erklären. Und da manche Menschen auch mit Leseschwächen und Sehproblemen zu kämpfen haben, musste es mehr um Bilder als um Text gehen. Man kann die Rezepte verstehen, ohne viel zu lesen“, so die Projektleiterin. „Das ist auch der Grund dafür, dass die Rezeptanleitungen so umfangreich sind und zum Teil 15 bis 20 Seiten umfassen, bei einzelnen Rezepten mit bis zu 30 bis 50 Fotos oder Abbildungen.“ Ein Kochbuch im herkömmlichen Sinne zu produzieren war aufgrund des Umfangs daher schnell vom Tisch: „Wir haben heute um die 150 Rezepte online. Angefangen bei Vorspeisen, Salaten, Suppen und Hauptmahlzeiten bis zu Desserts. Dies alles in gedruckter Form hätte ein Buch von gut neun Kilo ergeben!“ Die Lösung: Eine CD zum geringen Preis.

Es ging also um alltagstaugliche, einfache und ausgewogene Rezepte, tauglich auch für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln. Diese wurden gesammelt und in Kochkursen alle ausprobiert. Die Genese kann man online nachlesen. So hat sich der Nutzerkreis schnell erweitert. Nicht nur junge Menschen nutzen das Angebot. Mehr als 300.000 Aufrufe zeugen von einer breiten, bundesweiten Nutzung. Auch Pädagoginnen und Pädagogen sind so auf den Verband zugekommen, um das Angebot für ihre Arbeit zu nutzen.

 

Ein Angebot auch für Menschen mit Conterganschädigung

Das Angebot ist nicht speziell für Menschen mit Conterganschädigung entstanden. Dennoch ist es auch für diese geeignet. „Wir haben sehr darauf geachtet, dass unsere Rezepte und Tipps für Menschen im Rollstuhl sowie für Menschen mit komplexeren Behinderungen ansprechend sind“, sagt Pagel-Steidl. Oft sind Menschen mit Conterganschädigung weit eigenständiger als andere. Durch ihre biografische Prägung und Besonderheit der Behinderungen. „Dennoch besteht hier durchaus eine Schnittmenge, die unser Projekt auch für diese Menschen attraktiv macht. Bei einigen wird es vielleicht erst im fortschreitenden Alter wichtig, wenn man eben noch eingeschränkter ist oder etwa mit einer Assistenz zusammen kochen muss.“

So erklärt sich auch, warum die Anleitungen und Rezepte nicht in einer Art Online-Kochsendung vorgestellt werden. „Stellen Sie sich vor, Sie haben den Laptop oder das Handy ständig auf der Arbeitsplatte oder am Herd liegen“, erklärt Jutta Pagel-Steidl. „Filme oder Koch-Tutorials haben ja diese unterhaltsame Dynamik. Sie müssen aber ständig anhalten oder zurückgehen. Ein laminiertes Stück Papier oder ein ausgedrucktes PDF läuft Ihnen nicht davon.“ Aus Befragungen weiß man: Menschen, die sich Kochsendungen im Fernsehen anschauen, kochen die Gerichte in den allerseltensten Fällen nach. „Uns ging es bei dem Projekt um Pragmatik, um das direkte und schnörkellose Ermöglichen und Umsetzen.“ Offenbar mit Erfolg.

 

LINK

Mehr zum Projekt „Auf eigenen Füßen stehen“ auf der Website:
www.kochen-kann-ich-auch.de