Das Bild zeigt der Freizeitmusiker Tilmann Kleinau an seinem Schlagzeug

„Beim Musikmachen spielt meine Behinderung keine Rolle!“

Oft muss man wieder bei null anfangen“, sagt Tilmann Kleinau. Der 59-jährige lebt in Stuttgart, ist promovierter Literaturwissenschaftler, arbeitet als Übersetzer und ist in seiner Freizeit ambitionierter Schlagzeuger einer Cover-Band. Zudem ist er Autor. Sein Buch, das vor einigen Jahren erschien, hat den Titel: „Ich schlag mich schon durch“. CIP hat ihn interviewt.

 

Herr Kleinau, haben Sie heute schon getrommelt?

Nein, heute nicht. Ich spiele auch nicht jeden Tag. Wegen Corona gibt es momentan auch keine Bandproben. Ich trommle derzeit allein, mit Kopfhörern, da nerve ich nicht die anderen Mieter. Musik mit der Band zu machen ist momentan leider etwas schwierig.

 

Aber Musik ist sehr wichtig für Sie?

Absolut. Aus der Musik, aus dem gemeinsamen Musikmachen, kann ich sehr viel Kraft ziehen. Es macht mir große Freude, mit anderen zusammen was zu machen. Wir spielen Rockmusik in einer Coverband. Da muss man sich mit jedem einzelnen Song auseinandersetzen. Was machen wir daraus? Wie gehe ich das als Drummer an? Und wenn das dann beim Zusammenspiel klappt, ist das einfach nur toll! Musik ist für mich Therapie, Selbstfindung und soziale Interaktion zugleich.

 

Musik macht die Menschen gleicher?

Meine Behinderung spielt da jedenfalls keine Rolle. Die Musiker neben mir verlieren ihre Scheu. Ich spiele ja nicht in einer Behinderten-Combo, sondern muss mir meinen Platz erkämpfen. Gerade im Amateurbereich gibt es ein Kommen und Gehen, da wird auch gekämpft, um dabei zu sein.

Stellen Sie sich vor, jemand mit meiner Behinderung bewirbt sich als Schlagzeuger! Da gibt es erst einmal kritische Blicke. Sie werden immer unterschätzt und müssen beweisen, dass es geht, dass Sie das können. Selbst meinen Schlagzeuglehrer musste ich damals beknien, mir überhaupt zwei Stöcke in die Hand zu geben! Heute spiele ich seit über 40 Jahren Schlagzeug.

 

Das heißt, dass beide Seiten durchs Musikmachen voneinander lernen?

Schon, ja. Man kommt einerseits weg von der Haltung „Ach wie sieht der denn aus, kann der überhaupt einen Stock halten?!“. Wenn man anfängt zu spielen, merken andere dann schnell, dass ich das draufhabe. Für mich geht es darum, dass ich aufgrund meiner Behinderung lernen muss, Umwege zu machen. Da ich nun mal keine normalen Handgelenke habe, muss ich manchmal andere Lösungen für den Klang finden, die funktionieren. Wenn ich dann spiele, bin ich für die Zuhörer nicht mehr der Behinderte, sondern der Drummer.

 

Ihren Lebensunterhalt verdienen Sie als Übersetzer im Wirtschaftsbereich. Ist Sprache ihre große Leidenschaft?

Na, so einfach ist es nicht. Eigentlich war Übersetzen mein letzter Strohhalm und ist nicht mein Traumberuf. Zunächst ist meine Behinderung sehr ausgeprägt. Wenn Sie so kurze Arme und Beine haben, dann brauchen Sie von Beginn an eine gewisse Pflege. Und zwar dauernd. Das allein spielte eine große Rolle bei der Berufswahl. Ich wollte einfach einen Beruf ergreifen, bei dem ich mit Hilfe eines Studiums auch Geld verdienen kann. Journalismus hätte mich auch gereizt. Doch dafür ist man im Rollstuhl zu wenig mobil. So bin ich immer mehr auf die Sprachen gekommen, weil man mit sprachlichen und linguistischen Kenntnissen in Heimarbeit Geld verdienen kann. Mein Spezialgebiet ist zwar die Wirtschaft, aber ich übersetze auch Texte zu anderen Themen.

 

Homeoffice ist also nichts Neues für Sie?

Im Gegenteil, es ist elementar. Die Auftragsvergabe läuft ziemlich globalisiert und über E-Mail. Wenn man vom Englischen und Französischen ins Deutsche übersetzt, konkurriert man allerdings mit Leuten aus anderen Ländern, die vielleicht ganz andere Lebenshaltungskosten haben. Ich habe hauptsächlich ausländische Kunden und internationale Unternehmen.

 

 „Ämter oder Dienstleister sind zu dem am nettesten, der sie bezahlt.“ 

 

Über all das haben Sie eine Autobiografie geschrieben. Was hat Sie angerieben, selbst zu schreiben?

Schon immer haben Familienmitglieder und Freunde gesagt, schreib das mal auf! Sie fanden spannend, was ich zu erzählen hatte. Was ich erlebt habe mit meiner Conterganschädigung, die ganzen Schwierigkeiten im Alltag, aber auch die Erfolge im Leben. Sie meinten: Du hast so ein ungewöhnliches Leben und letztendlich hast Du es ins Positive gedreht, trotz der negativen Voraussetzungen. Ich habe mich lange geziert und wollte erst nicht. Aber ich habe mit Sprache, mit Geschriebenem zu tun. Da lag es eigentlich nicht so fern. Als ich dann angefangen hatte, schrieb es sich fast von allein.

 

Was gab am Ende den Ausschlag?

Das Buch war in erster Linie für Nichtbehinderte gedacht. Ich wollte erzählen, womit man zu kämpfen hat, was man alles bewältigen muss. Dinge, an die Nicht-Geschädigte nicht mal denken müssen. Ich finde, das ist mir ganz gut gelungen. Der meiste Zuspruch kam aber von Behinderten und anderen Contergangeschädigten. Für sie war es gut zu erleben, dass sie mit ihren Problemen und Sorgen nicht allein sind. Es hat ihnen Mut gegeben.

 

Das Buch sollte ursprünglich „Stufen“ heißen. Die Verleger wollten lieber was Griffigeres, womit sie wohl richtig lagen. Mein Leben verlief jedenfalls in Stufen, so habe ich es aufgefasst und so sind die Kapitel auch konzipiert. Als Stufen, als Schritte nach oben. Wie eine Treppe, die man raufgeht.

 

Auf welcher Stufe befinden Sie sich jetzt?

Ich bin bei guter Gesundheit und kann dank meiner drei Assistenzkräfte ein einigermaßen geordnetes Leben führen. Dafür muss man allerdings sein Leben lang kämpfen, sich gegen Widerstände durchsetzen, Anträge stellen usw. und oft fängt man da wieder bei null an, weil sich Umstände ändern, Verordnungen kommen oder man neue Menschen neu überzeugen muss. Interessant finde ich immer wieder, dass man anders behandelt wird, wenn man etwas selbst bezahlt. Ämter oder Dienstleister sind zu demjenigen am nettesten, der bezahlt. So bin ich für meinen Autohändler ein Kunde, für mein Sanitätshaus aber Patient. Die müssen nur nett zur Krankenkasse sein.

 

Sie wurden nach Ihrer Geburt notgetauft. Bedeutet Ihnen Religion irgendetwas?

Ich bin evangelisch getauft worden und arbeite ehrenamtlich mit evangelischen oder christlichen Trägern zusammen und nutze ihre Dienste. Im kirchlichen Sinne gläubig bin ich jedoch nicht. Dabei wollte ich mal Theologie studieren. Das Studium an sich wäre auch kein Problem gewesen. Doch man gab mir zu verstehen, dass ich niemals als Pfarrer arbeiten und eine Gemeinde haben könnte. Da hab ich das aufgegeben, denn darum wäre es mir ja gegangen: Seelsorge.

 

„Das Ende der Treppe ist noch nicht in Sicht!“

 

In Ihrem Buch formulieren Sie eine Reihe Forderungen und Wünsche an die Gesellschaft. Sind das heute noch die gleichen wie vor zehn Jahren?

Es hat sich schon einiges getan. Denken Sie an Inklusionsbestrebungen oder Barrierefreiheit. Wir haben jetzt ein Antidiskriminierungsgesetz. Fliegen ist für Menschen mit Behinderung kein großes Problem mehr. Beim Bahnfahren sie es allerdings anders aus. Wenn Sie nicht schnell sind und sich laut bemerkbar machen, fährt der Zug weiter, bevor jemand eine Rampe ranschafft oder Ihnen anders in oder aus dem Zug hilft. Mehr Achtsamkeit ist aber nur einer meiner Wünsche an die Gesellschaft. Menschen mit Behinderung sind immer noch etwas unsichtbar.

 

Sie selbst haben mit fast 60 Jahren auch immer noch Pläne…

Ich bin schon jemand, der immer neue Herausforderungen sucht. Derzeit denke ich darüber nach, was ich als nächstes beruflich machen werde. Der Bereich Coaching und Beratung interessiert mich. Was ich mir auch gut vorstellen kann, ist mehr Musik zu machen, komponieren zu lernen, Songs und Stücke zu schreiben. Oder mehr eigene Texte schreiben, das könnte auch ein Thema sein. Sie sehen, das Ende der Treppe ist nicht in Sicht.

 

Das ausführliche Interview können Sie hier nachlesen.

 

Die Autobiografie von Dr. Tilmann Kleinau ist inzwischen vergriffen, aber noch antiquarisch erhältlich. Zum Beispiel im Online-Antiquariat www.zvab.com