Das Bild zeigt Rainer Jagusch, einen Fotografen und Filmemacher

„Der Film ist eine Sammlung von O-Tönen“

Anlässlich des 60. Jahrestages der Marktrücknahme von Contergan Ende November vergangenen Jahres waren mehr als 160 Menschen mit Conterganschädigung der Einladung zu einem zweitägigen „Lebensfest“ nach Köln gefolgt. In diesem Rahmen wurde erstmals auch der Film „Stimmen gegen das Vergessen – Contergan“ von Rainer Jagusch gezeigt. Wir haben mit dem Bochumer Fotografen und Filmemacher gesprochen.

 

Herr Jagusch, wie sind Sie zum Filmemachen gekommen?

Angefangen hat alles mit der Fotografie. Das habe ich bei der Bundeswehr gelernt – ich war Luftbildfotograf und wollte eigentlich Fotodesign studieren.

Dann bin ich längere Zeit ernsthaft an einer Hirnhautentzündung erkrankt und konnte erst einmal nicht weitermachen. Nach einiger Zeit bin ich dann allmählich wieder zum Fotografieren zurückgekommen. Über meinen Schwager und Mundpropaganda bin ich an Aufträge und Jobs gekommen – auch für den Bereich Bewegtbild.

 

Menschen ins Bild zu setzen ist oder war gar nicht ihr primäres Thema?

Nicht in erster Linie, das stimmt. Ich arbeite sehr viel im Bereich Architektur, etwa im Auftrag von Maklern. Außerdem bin ich im medizinischen Bereich tätig. Zum Beispiel habe ich mit meinen Fotos an einem Fachbuch eines befreundeten Chirurgen mitgewirkt, das er über Wirbelsäulen-OPs geschrieben hat. Sehr speziell.

 

Und wie kam dann letztendlich das Filmprojekt „Gegen das Vergessen“ zustande?

Ich kannte den Interessenverband der Contergangeschädigten in NRW schon eine längere Zeit durch einen Freund. Die Zusammenarbeit begann damit, dass ich die Reha Care Messen mit der Kamera begleitet habe. So habe ich die Menschen und deren Themen und Probleme immer mehr kennengelernt.

Im Zuge der Planungen für das Gedenkjahr 2021 fragte mich Udo Herterich dann, ob ich eine Idee hätte, was man anlässlich der 60-jährigen Marktrücknahme machen könnte.

 

Und Sie hatten eine Idee…

Ja. Mein Eindruck war, dass die Sache mit Contergan nach all der Zeit doch sehr in Vergessenheit geraten war. Selbst Mediziner und Ärzte, erst recht jüngere Menschen, wissen so gut wie gar nichts mehr darüber. Hauptansatz musste also sein, dem Nichtwissen entgegenzuwirken und noch mal auf die Betroffenen und deren Probleme aufmerksam zu machen.

 

Das Grundkonzept war dann, die Menschen erzählen zu lassen?

Genau. Ich wollte sie ihre persönlichen Geschichten erzählen lassen. Und zwar grob gerastert an vier Fragenblöcken, zu denen sich alle äußern konnten. Eine Frage etwa war: Wann hast Du zum ersten Mal gemerkt, dass bei Dir etwas anders ist? Allein da bekommt man die unterschiedlichsten Antworten. Bei dem einen war das im Kindergarten, bei anderen wurde das Anderssein zunächst weniger bewusst wahrgenommen.

Es sollten aber auch die Eltern der Betroffenen zu Wort kommen. Denn diese sterben ja allmählich weg. Daher wollte ich, dass sie möglichst authentisch und aus erster Hand erzählen, wie es damals war: Was haben sie empfunden, wie sind sie damit umgegangen, welche Kämpfe haben sie austragen müssen usw. Der Film ist somit eine Art Sammlung von O-Tönen, unkommentiert und nur durch ein paar Fotos und Dokumente illustriert.

 

Wie haben Sie die Interviewpartnerinnen und -partner gefunden?

Das Gute war, dass viele mich schon kannten. Durch die Messen etwa oder durch andere Veranstaltungen, bei denen ich mit der Kamera war. Das war sehr hilfreich, um Interviewpartner zu finden. Der Interessenverband hat dann auch noch mitgeholfen, die Kontakte herzustellen und das Projekt bei den Betroffenen zu lancieren.

 

Wenn ich Sie noch mal auf Ihre eigene Erkrankung ansprechen darf, hat diese Sie besonders sensibel gegenüber der Thematik gemacht?

Auf jeden Fall, denke ich. Ich habe am eigenen Leib festgestellt, wie es ist, wenn nichts mehr geht und man vollkommen auf Andere angewiesen ist. Seien es Ärzte oder Mitmenschen. Da wird man demütig und sicherlich sensibel für Menschen und Situationen. Auch wenn das nicht vergleichbar ist, verändert es die Perspektive.

 

Welche Rolle spielte Michael Lapp, der selbst von Contergan betroffen ist und für den Film die Regie-Assistenz geführt hat?

Ehrlich gesagt wäre das alles ohne ihn gar nicht möglich gewesen. Nicht so schnell und nicht so reibungslos. Wir sind befreundet und er war einfach eine große Hilfe. Während der gesamten Vorbereitung und Produktion war er eine zentrale Figur. Nicht zuletzt, weil ich zu der Zeit gesundheitlich arg angeschlagen war, hat er das Ganze entscheidend vorangebracht.

Michael hat vor allem eine Menge Türen zu den Betroffenen geöffnet. Und zwar sprichwörtlich, da wir zu den Menschen nachhause gefahren sind, um sie in ihrem privaten Umfeld zu filmen. Er hat viel zu einer entspannten Atmosphäre beigetragen. Ich bin ihm sehr dankbar.

 

Nach welchen Kriterien haben Sie die Szenen und Episoden dann ausgewählt?

Ich hatte am Ende etwa 30 Stunden Filmmaterial, das ich auf 60 Minuten schneiden musste. Man muss einer gewissen Dramaturgie folgen, einen gewissen Spannungsbogen halten. Manche Interviewte sind daher gar nicht oder nur ganz kurz drin. Es gab ebenso Szenen und Situationen, die waren so intim, dass ich sie nicht verwendet habe. Etwa, wenn jemand in Tränen ausgebrochen ist. Teilweise bin ich aus den Interviews rausgekommen und musste selbst erst mal kräftig schlucken. Doch wenn zu viel hochkommt, muss man die Menschen auch schützen. Nicht zuletzt muss man darauf achten, dass der Zuschauer das fertige Produkt gerne und mit Gewinn anschaut.

 

Ihr Film ist erstmals im Rahmen des „Lebensfestes“ Ende 2021 in Köln gezeigt worden. Wie war die Resonanz?

Die Resonanz war sehr gut. Ich konnte natürlich nicht selbst mit allen sprechen, doch sowohl die Beteiligten als auch die Zuschauenden waren sehr angetan. Von daher war das Filmprojekt ein voller Erfolg!

 

Was wünschen Sie sich, ganz persönlich, für Ihren Film und für die darin auftretenden Menschen?

Es wäre natürlich schön, wenn der Film über die Betroffenenfamilien und Verbände hinaus mehr Bekanntheit erfahren würde. Denn es geht in der Tat darum, das Thema und die Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Den Betroffenen wünsche ich, dass sie ein würdevolles Leben führen können, bis zum Ende.

 

Sie planen schon das nächste Filmprojekt, das genau dort anschließt?

Ja. Wir werden die Geschichten weitererzählen. Es soll ein Nachfolger kommen. Wobei der ein wenig anders wird. Der Fokus soll hier hier mehr auf den Familien liegen und darauf, wie der Fall Contergan die anderen Familienmitglieder geprägt hat.

 

Dann sprechen wir uns dazu gerne wieder, wenn Sie wollen…

Aber gern. Ich denke Ende dieses Jahres könnte es so weit sein.

 

LINK

Hier der Link zum Film „Gegen das Vergessen“

 

 

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