Das Bild zeigt Udo Herterich und seine Frau Claudia Schmidt-Herterich sind Initiatoren der Internationalen Contergan Thalidomid Allianz (ICTA)

„Die Zeit war reif, dass sich was ändern musste!“

Udo Herterich und seine Frau Claudia Schmidt-Herterich sind Initiatoren der Internationalen Contergan Thalidomid Allianz (ICTA), einem Zusammenschluss von Contergan- und Thalidomid-Opfern aus über 50 Ländern. Was hat damals vor gut 13 Jahren zu der Initiative geführt? Was sind ihre Ziele und wie kam es, dass 50 Jahre nach Einführung von Contergan die Opfer des Medikaments im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein präsenter sind als zuvor? Darüber haben wir mit beiden gesprochen.

 

Wir treffen das Ehepaar Schmidt-Herterich in ihrer Wohnung mitten im Kölner Ortsteil Rodenkirchen. Noch steht die Osterdekoration, die hier jeden freien Zentimeter in Anspruch nimmt. „Ja, wir dekorieren gerne“, sagt Claudia Schmidt-Herterich nicht ohne Ironie, und man kann sich ausmalen, welche Arbeit es für Menschen im Rollstuhl macht und wie viel Hingabe für die Wohnungsgestaltung nötig ist. Und Hingabe, das wird einem schnell klar, ist für sie eine starke Triebfeder. Ebenso wie Begeisterung und eine gute Portion Biss. All das – neben einem dem Rheinländer eigenen Hang zum Schalk im Nacken – war immer Triebfeder bei ihrer Arbeit für die Rechte der Menschen mit Conterganschädigung. Und das nicht nur in Deutschland.

 

Liebe Frau Schmidt-Herterich, lieber Herr Herterich, wie und warum kam es 2008 zur Gründung der ICTA?

Dazu müssen wir aber zunächst ein bisschen ausholen. Man kann sagen, es lag was in der Luft. Es musste sich was ändern für uns. Das war vielen klar. Aber wir waren auch sehr mit uns selbst beschäftigt. Dann kam der Film „Eine einzige Tablette“.

 

Der ARD-Zweiteiler, der nach einigen Wirren und Kontroversen mit der Firma Grünenthal im September 2007 ausgestrahlt wurde.

Genau. Durch das Hin und Her geriet die Ausstrahlung immer näher an den 50. Jahrestag der Markteinführung von 1957 heran. Zu diesem Termin hatten wir internationale Gäste nach Köln eingeladen. Im Zuge dessen wurde Contergan wieder zum Begriff und wir Contergan-Opfer waren plötzlich ein bisschen mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft zurückgekehrt. Wir selbst haben festgestellt: Man hatte uns davor einfach vergessen. Jahrzehnte lang war es ruhig um uns gewesen. Wir galten als alimentiert, bekamen unsere kleinen Renten. Die meisten, so schien es, hatten sich mit den bestehenden Regelungen arrangiert. Auch politisch spielte das Thema keine Rolle mehr.

 

Das alles hat der Film geändert?

So direkt und allein natürlich nicht. Aber er war eine Art Initialzündung für uns, wieder verstärkt aktiv zu werden. Die stetig wachsenden Kosten für tägliche Assistenz, Pflege, Heilmittel und Behandlungen, andere Hilfsmittel und auch der Arbeitseinkommensverlust waren bei Weitem nicht mehr zu decken gewesen. Es musste also was geschehen, gerade im Hinblick auf die für uns anstehende dritte Lebensphase - mit ihren Folgeerkrankungen, Alterserscheinungen und dem teils erzwungenem Berufsausstieg.

Es ging dann sehr schnell. Im Januar 2008 haben wir die Leute der internationalen Kampagne eingeladen und die ICTA gegründet.

 

Was war das für eine internationale Kampagne?

Wir hatten viele über die Jahre gewachsene Kontakte in die halbe Welt. Die haben wir aktiviert und alle Betroffenen eingeladen. Von zentraler Bedeutung war der Kontakt nach England, wo die Betroffenen eine richtige Kampagne gefahren hatten. Die Leiter des dortigen Trusts hatten nach Göttingen eingeladen, wo ein Archiv der Uni geöffnet worden war. Da haben wir die geschichtlichen Zusammenhänge gelernt und begriffen. Die Engländer haben zudem viel mehr erreicht als wir, daher lag es nahe, dass wir uns erzählen ließen, wie es funktionieren kann. Natürlich war es hilfreich, dass wir einen großartigen Rhetoriker und Motivator wie Nick Dobrik hatten. Er hat uns gezeigt, wie man vorgehen kann. Das Meeting war sehr spontan, trotzdem professionell und ein bisschen aus dem Boden gestampft. Die Zeit für die Idee schien jedenfalls reif zu sein. Es herrschte große Aufbruchsstimmung.

 

In Deutschland liegt der Fokus auf dem Medikament Contergan der Herstellerfirma Grünenthal, im Ausland ist der Wirkstoff Thalidomid mehr im Fokus. Warum? 

Das liegt an den Lizenzierungen der Medikamente, die von Grünenthal in den verschiedenen Ländern vertrieben wurden. Das Mittel Contergan gab es nur hier. Der Wirkstoff Thalidomid ist hingegen in vielen medizinischen Produkten im Ausland enthalten. Daher haben wir schon am nächsten Tag der Gründung das T beigefügt und sind als ICTA in Aktion getreten.

 

Die ICTA ist eine Allianz, eine Art Bürgerinitiative und kein Interessenverband im klassischen Sinne. Ist das ein Vorteil?

Ein Vorteil ist, dass man kein eingetragenes Mitglied sein muss, um was zu machen. Wir sagen immer: Jeder kann ICTA sein. Alle haben, sozusagen, eine Sprecherfunktion. Es gibt keine Hierarchien und dadurch schon mehr Flexibilität. Wir beide sind die ICTA-Kampagnensprecher in Deutschland. Aber nicht, weil wir erst gewählt werden mussten.

 

Welche Länder zählen zur Allianz und über wie viele Betroffene sprechen wir dabei?

Über sehr viele. Es sind die geschädigten Opfer, die dabei sind. Die Menschen, weniger die Länder als solche. Das macht uns auch alle gleich, haben wir gemerkt. Ein italienischer Mann ohne Arme oder Beine verhält sich genau wie ein japanischer oder schwedischer. Und Opfer gibt es in über 50 Ländern. Dennoch zentriert es sich auf Europa, also Deutschland, England, Irland, Österreich, Schweden, Dänemark, Belgien und die Niederlande, aber auch der Austausch nach Kanada, Südamerika und Australien ist rege.

 

Wo lag der Vorteil, mit der ICTA politisch aktiv zu werden, statt etwa über die Verbände?

Wir haben auch von den Engländern gelernt, uns zu fokussieren und nicht mit einer Art Manifest oder mit Thesen aufzutreten. Letzteres wäre ein sehr „deutscher Weg“ gewesen und nach langen Debatten und Diskussionen wäre vielleicht wenig herausgekommen. Es besteht immer die Gefahr, dass man sich zerfleischt, obwohl man eigentlich das Gleiche will. Ob das deutsch oder menschlich ist, sei dahingestellt. Unsere deutschen Vereins- und Verbandstrukturen begünstigen Schnelligkeit jedenfalls nicht. 

 

Was waren bei der Gründung und was sind heute die wichtigsten Themen für die ICTA?

Unser Fokus lag auf drei Kernforderungen: Eine deutliche Erhöhung der Conterganrenten, eine jährliche Einmalzahlung und die Aufhebung der sogenannten Ausschlussfrist, wodurch Vielen die Möglichkeit eröffnet wurde, Leistungen aus der Conterganstiftung zu beantragen, die bislang nicht als Contergangeschädigte anerkannt waren. In groben Zügen hat das alles zum 2. Conterganstiftungsänderungsgesetz geführt. 2013 trat dann schon das 3. Änderungsgesetz in Kraft – ein weiterer wichtiger Etappensieg unserer Kampagne. Seitdem sind die Conterganrenten im Schnitt vervierfacht worden und es gab einen Gesundheitsfond für Zahnbehandlungen und Implantationen sowie für medizinisch notwendige Therapien und Hilfsmittel. Aber es ging und geht natürlich immer weiter.

 

Sie deuten an, dass man dies alles nicht über die Verbandsarbeit hätte erreichen können?

Es wäre auf jeden Fall schwieriger gewesen. Allein wegen der Strukturen. Unsere Aktionen und Forderungen waren auch mit einer gewissen Überzeugungsarbeit verbunden, die wir beim Bundesverband und den Landesverbänden zu leisten hatten. Es gab nicht überall gleich helle Begeisterung. Es bestand die Angst, dass man uns alles wegnehmen würde, weil wir aufmucken. Aber wir fanden, dass wir laut vernehmbar kämpfen müssten. In der ICTA kämpft man auch für sich selbst. Die Verbände machen das, sozusagen, stellvertretend für die Menschen mit Conterganschädigung, auch wenn sie nicht Mitglied sind.

 

Wie haben Sie den nötigen Einfluss auf die Politik genommen?

Über Anschreiben an die Abgeordneten, zentral und über die Betroffenen. Wir organisierten, dass die Briefe alle am selben Tag eingingen. Das sorgte für jede Menge Flurfunk. Viele der Parlamentarier waren in unserem Alter, kannten aus der Kindheit und Jugend fast alle einen Betroffenen. Das hatte einen enormen Einfluss auf das Bewusstmachen der Problematik. Einige haben sich wohl gedacht: Wir haben diese Leute wirklich vergessen!

Bei jeder Anhörung zum Conterganstiftungsänderungsgesetz waren wir in großer Zahl anwesend, sind zu Hunderten nach Berlin gereist. Auch das hat Eindruck hinterlassen.     

 

Sie, Herr Herterich, sind ebenso Vorsitzender des Interessenverbandes Contergangeschädigter NRW und der führende Kopf der Kölner und Kölnerinnen mit Conterganschädigung.

Im Vergleich zur ICTA, die als Bürgerinitiative auf jegliche Verbandstrukturen verzichtet, sind die Landesverbände anders aufgebaut. Sie wurden ja schon früh von unseren Eltern gegründet und dann von uns fortgeführt. Es sind Vereine, die sich um die Interessen der Vereinsmitglieder kümmern. Hier geht es um lokale, direkte Unterstützung, um Gesundheitspolitik und um Beratung und um den Austausch mit der Stiftung. Es gibt regelmäßige Treffen. Vereinsleben halt.

 

Die Strukturen in Deutschland sind anders als im Ausland. Wie gestaltet sich da die Zusammenarbeit mit Interessenvertretern und -vertreterinnen und Geschädigten in anderen Ländern?

Man kann die Länder und ihre Gesetzgebungen selten vergleichen und auch nicht alle über einen Kamm scheren. Die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich, die Gesundheitssysteme auch, gerade außerhalb Europas. Ständiger Austausch ist wichtig. Und man braucht gemeinsame Kriterien, Evaluationen und einen gemeinsamen „Katalog“, auf den man sich verständigen kann. Erst dann geht es um die Ansprache der politischen Entscheider. Und es hängt alles zusammen, wie man am Beispiel Renten in Brasilien oder der Zahlungen in Belgien sehen kann.    

 

Der Contergan-Skandal jährt sich nun zum 60. Mal. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Die Termine 27. November 1961 und die Markteinführung 1957 haben wir als „Kölner Contis“ schon immer begangen. Etwa mit Mahnwachen vor dem Werk von Grünenthal. Heute braucht es was Kreativeres, auch Altersgerechtes. So werden wir zusammen mit anderen Interessierten auch dieses Jahr die eine oder andere Aktion planen. Wir waren immer schon eine aufmüpfige, unruhige Truppe. Von Beginn an, und das bleibt auch so.

 

Was genau planen Sie?

Selbst wenn wir das heute schon genau wüssten, würden wir es nicht verraten! (lacht)