Das Symbolbild zeigt einen Arzt, der einem Menschen im Rollstuhl die Hand auf die Schulter legt

„Durch Contergan geschädigte Menschen haben nicht nur körperliche Schäden.“

Psychische Leiden von Menschen mit Conterganschädigung standen lange Zeit nicht im Fokus der Versorgung. Inzwischen gibt es für Betroffene die Möglichkeit, auch bei psychischen Problemen gezielt Hilfe zu suchen: Zum Netzwerk der multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren gehört auch die Uniklinik Köln mit ihrer Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie. Hier wird eine Sprechstunde speziell für Menschen mit Conterganschädigung angeboten.

In einem Themenschwerpunkt beleuchtet CIP in loser Abfolge unterschiedliche Aspekte psychischer Leiden von Menschen mit Conterganschädigung. Hier gibt Bianca Vogel Schmidt Auskunft über ihren Weg in die Therapie – und wieder hinaus.

 

Frau Vogel Schmidt, Sie haben sich an die psychosomatisch-psychotherapeutische Contergansprechstunde an der Universitätsklinik Köln gewandt. Wie kam es dazu?

Bei mir gab es irgendwann einen Zeitpunkt, an dem ich einfach nicht mehr konnte, nicht mehr weiterwusste. Der direkte Auslöser war, dass meine Mutter schwer krank wurde und ich mich wieder einmal mit einem Abschied auseinandersetzen musste. Zum Thema Abschied hatte ich in meinem Leben schon genug erlebt, fand ich. Zum Beispiel den Abschied vom Leistungssport, Abschied vom Funktionieren meines Körpers. Das allein war für mich schon sehr schwer zu akzeptieren.

 

Hatten Sie das Gefühl, die Probleme nicht mehr bewältigen zu können?

Es bröckelte immer mehr weg. Der drohende Verlust der Mutter mit allem, was daran hing, war dann einfach zu viel. Ich war müde, überfordert, erschöpft, traurig. Ich wusste, ich brauche ein Gegenüber, das mich anders betreut, anders zuhört als es Freunde oder Bekannte tun. Ich hatte sehr viele Fragen in mir. Ich musste neue Wege eröffnet bekommen, mit gewissen Dingen anders umgehen lernen. Sonst würde ich in eine Depression fallen, das merkte ich. Das wollte ich nicht, weil ich im Grunde gar nicht der Typ dafür bin. Deshalb habe ich mir Hilfe gesucht und dann die Therapie bei Dr. Niecke angenommen.

Ihn hatte ich bereits im Rahmen einer früheren Studie kennengelernt. Er schien mir sehr vertrauenswürdig. Vor allem aber war mir wichtig, dass ich mich an einen Arzt wenden kann, der sich schon mit Contergan und der gesamten Problematik auseinandergesetzt hat.

 

Entscheidend war für Sie also, dass hier schon eine entsprechende Vorerfahrung vorhanden war?

Ja, richtig. Es geht ja um das Gesamtbild, das man von der Patientin oder dem Patienten hat. Alle Menschen haben ihre Geschichte, so haben auch wir unsere. Unsere Biografien sind nun mal sehr durch die Conterganschädigung geprägt, und das über sechs Jahrzehnte. Sei es durch die Eltern, durch die Medien, unser Umfeld oder auch durch uns selbst. Noch bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt habe ich Aufklärungsarbeit leisten müssen. Denn selbst erfahrene Ärzte haben das Thema Contergan heute nicht mehr auf dem Schirm.

 

Weil eine Conterganschädigung als ein seltenes Phänomen gilt und heute wieder weitgehend unbekannt ist?

Genau. Aufgrund dessen, dass Dr. Niecke und sein Team mit dem Thema Contergan so gut vertraut sind, habe ich mich dort sofort richtig aufgehoben gefühlt. Es ist zwar 60 Jahre her, seit der Skandal öffentlich wurde. Aber für uns, die Angehörigen und für unser gesamtes Leben bleibt das Thema eben trotzdem immer aktuell. Noch immer kommen diese Fragestellungen, und man muss alles immer wieder von vorne erklären. Das hat auch was mit Kraft zu tun. Die habe ich durchaus, aber es gibt viele, die das gar nicht können.

 

Aber auch Ihre Kraft war irgendwann zu Ende …  

Wir Geschädigten mussten in unserem Leben immer einen Tick besser sein und auch mehr wollen, uns behaupten, uns durchsetzen. Schon, um den eigenen Ansprüchen, denen des eigenen Umfelds und der Gesellschaft standzuhalten. Das ging lange Zeit gut bei mir. Aber jetzt kam eben der Punkt, da musste mein „Köfferchen“ mit neuem Werkzeug befüllt werden, sozusagen. Ich brauchte etwas Handfestes, etwas Konkretes. Es musste lebensnah sein, praxistauglich, so dass ich wieder hinausgehen und sagen kann: Ich hab‘ was im Köfferchen und kann damit arbeiten.

 

War es schwierig, sich einzugestehen, Hilfe zu brauchen?

Ich bin der festen Meinung, dass Hilfe suchen nichts mit Schwäche zu tun hat. Man muss im Gegenteil die Stärke haben, es zuzulassen und sich einzugestehen: Irgendwas stimmt hier nicht. Ich bin müde. Ich bin ausgepowert. Ich kann nicht mehr und weiß nicht mehr weiter. Freunde und Bekannte wollen natürlich helfen. Ich habe damals auch mit meiner besten Freundin und meinem Ehemann gesprochen. Aber genau in diesem Gespräch habe ich irgendwann gesagt: Ich glaube, ich brauche jetzt Hilfe. Und zwar von ganz außen.

Für mich war der Schritt dann gar nicht so groß. Ich habe schon mal in meiner Frühzeit als Sportlerin Hilfe gesucht. Damals kamen die Zweifel auf: Schaffe ich das, warum mache ich das eigentlich alles mit dem Leistungssport? Ich bin ein Mensch, der sich grundsätzlich nicht versteckt.

 

Sie sagen, dass Ihr Selbstbild allmählich „gekippt“ ist. Glauben Sie, dass es vielen Menschen mit Conterganschädigung ähnlich geht wie Ihnen?

Ich glaube das schon. Eben, weil wir immer funktionieren und kämpfen mussten. Aber ich kann nur von mir selbst sprechen. Jeder, der Schicksalsschläge erlebt, steckt in der Gefahr, aus dem Tief nicht mehr rauszukommen. Aber das ist eine Frage der eigenen Reflexion. Die ist wichtig dabei. Ich kann auch weiter in meinem Sumpf bleiben, weil es mir darin vielleicht gut geht. Ich kann ebenso immer andere um mich herum beschuldigen. Das hängt vom Typ Mensch ab.

 

Welchen Rat haben Sie an die Betroffenen?

Es gibt jetzt Hilfe für jene, die Hilfe suchen, ohne dies öffentlich machen zu müssen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es hilft. Deshalb rate ich: Wenn jemand nicht weiterkommt, nutze das Angebot! Es kann den Blick öffnen, dass man sagt: Wow, man kann es auch so sehen. Das erleichtert alles, macht den Weg freier. Das Herz, die Seele ist nicht mehr so bedrückt. Das ist so wichtig.

Wenn es solch ein Angebot schon früher gegeben hätte, dann hätte man vielleicht viele psychische Leiden früher anpacken, lindern oder verhindern können. Wir haben immer wieder gesagt: Wir haben nicht nur die körperlichen Schädigungen und die daraus resultierenden Folgeschäden. Der durch Contergan geschädigte Mensch ist geschädigt an Körper und Seele. Das würde ich gerne hervorheben. Auch unsere Seelen leiden.

Es ist nun mal so, dass wir früher in vielen Dingen stark sein mussten. Der Körper hat im Grunde lange mitgespielt, wurde „passend gemacht“, doch dann merkt man auf einmal: Es geht nicht mehr. Und das verhältnismäßig früh im Leben. Aber der Kopf funktioniert noch. Da kommt man dann in so eine Art seelische Bredouille. Wenn ich früher eine solch passende psychologische Betreuungsmöglichkeit gehabt hätte, ich hätte sie sofort angenommen.

 

Eine Therapie ist ja ein Prozess, der in Phasen verläuft. Wo, würden Sie sagen, stehen Sie jetzt?

Wenn man es salopp sagen will, bin ich auf einem guten Weg. Ich stehe gut da und bin selbstsicherer als vor der Therapie. Ich habe beispielsweise eine unangenehme Sache vor mir, die Konfrontation mit dem zweiten Ehemann meiner Mutter. Vor Gericht. Vor einem Dreivierteljahr hätte ich das nicht geschafft, aber jetzt sage ich: Ich schaffe das.

 

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Weitere Infos

Das Angebot der multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren steht allen Menschen mit Conterganschädigung offen. Gerne können Sie sich vertraulich an den Beratungsbereich der Conterganstiftung oder direkt an das Kompetenzzentrum selbst wenden.

Das Portrait des Kompetenzzentrums an der Uniklinik Köln finden Sie hier.
Ebenso gibt es im CIP weitere Beiträge und Interviews zum Thema:
Ein Interview mit dem Leiter Contergansprechstunde, Dr. Alexander Niecke, dem Leider der dortigen Ambulanz, Gernot Lentzen sowie ein Gespräch mit einer der Ärztinnen, Celina von Tiele-Winckler.