Dr. Romy Reimer

„Es reicht nicht aus, den Blick auf rollstuhlgerechten Wohnraum zu richten“

Wie wollen wir im Alter wohnen? Wie lässt sich eine altersgerechte Lebenssituation im gewohnten sozialen Umfeld realisieren? Wie begegnet man veränderten Bedarfen, die durch altersbedingte Einschränkungen entstehen? Für Menschen mit Conterganschädigung sind Fragen wie diese in der siebenten Lebensdekade besonders relevant. Für das Thema Wohnformen ist Frau Dr. Romy Reimer als Mitglied in der neu berufenen Expertinnen- und Expertenkommission der Conterganstiftung zuständig. Mit ihr haben wir über verschiedene Aspekte des komplexen Themas Wohnen im Alter gesprochen.

 

Frau Dr. Reimer, Sie gehören der Expertinnen- und Expertenkommission der Conterganstiftung an. Worin liegt Ihre persönliche Motivation, an der Kommissionsarbeit mitzuwirken? 


Im Feld der neuen Wohnformen gab es in den vergangenen Jahrzehnten wunderbare Ansätze, Wohnen inklusiver zu gestalten. Initiativen sowie Trägerinnen und Träger entwickeln Wohnangebote, die auf unterschiedliche Wohnanforderungen reagieren und damit die soziale Teilhabe und Teilnahme von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen stärken. Ich denke, dass diese Ansätze auch für Menschen mit Conterganschädigung bedeutsam sind und gleichsam deren Lebensqualität und Selbstbestimmung in der zweiten Lebenshälfte stärken. Daran möchte ich in der Kommission aktiv mitarbeiten und Ideen entwickeln.

 

Das Thema Wohnen im Alter betrifft im Grunde alle Menschen. Welche spezifischen fachlichen Erfahrungen und Erkenntnisse bringen Sie bezogen auf die besonderen Anforderungen von Menschen mit Conterganschädigung ein?

 

Meine fachliche Expertise bezieht sich ausschließlich auf das Feld der Neuen Wohnformen. Dazu gehören klassische gemeinschaftliche Wohnprojekte, ambulant betreute Wohngemeinschaften oder Quartiersansätze wie das so genannte Bielefelder Modell. Was all diese Projekte verbindet, ist die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Schaffung von Räumen für Teilhabe, Mitgestaltung und Begegnung.

In vielen dieser Projekte wird Inklusion selbstverständlich mitgedacht und gelebt und so auch Wohnraum für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf geschaffen. Erfahrungen und Erkenntnisse bezogen auf diesen Kontext bringe ich in die Kommission ein. Und dort treffen ja Expertinnen und Experten – darunter auch Vertreterinnen und -vertreter aus den Reihen der Betroffenen – aus den Bereichen „Medizinische Versorgung“, „Wohnen“ und „Psychosoziale Begleitung“ zusammen, um gemeinsam Empfehlungen für eine altersgerechte Versorgung von Menschen mit Conterganschädigung zu erarbeiten. Das ist aus meiner Sicht ein vielversprechender Ansatz, um zu tragfähigen Ergebnissen zu gelangen.

Ich freue mich jedenfalls auf den Austausch, insbesondere mit den Betroffenen, und die damit verbundene Möglichkeit, Wohnanforderungen auszuloten und Lösungsansätze zu formulieren, die den unterschiedlichen Bedarfen dieser Personengruppe Rechnung tragen.

 

Inwieweit erschwert die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt solche Ansätze?

 

Es mangelt bundesweit allgemein an inklusiven Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung. Etwa weist die „Aktion Mensch“ in der Veröffentlichung „Gute Gründe, in barrierefreies Bauen zu investieren“ darauf hin, dass 2022 bereits 2,5 Mio. barrierefreie Wohneinheiten fehlten. Geschätzt wird, dass bis 2040 ein zusätzlicher Bedarf von 3,2 Mio. barrierefreien Wohneinheiten entsteht.

Gleichzeitig reicht es nicht aus, den Blick ausschließlich auf das Vorhandensein von barrierefreiem oder rollstuhlgerechtem Wohnraum zu richten. Es braucht Wohnangebote in funktionierenden Wohnumfeldern. Dazu gehören neben infrastrukturellen Voraussetzungen, beispielsweise auch starke Nachbarschaften, in Verbindung mit Begegnungsorten und Räumen für Teilhabe und Engagement sowie niedrigschwellige Hilfen und ambulante Dienste im Wohnumfeld.

 

Wie gehen Sie unter der gegebenen Aufgabenstellung, praktikable Handlungsempfehlungen zu entwickeln, an das Thema Wohnen heran?

 

Mein Ansatz wäre es, der Arbeitsgruppe Wohnen innerhalb der Kommission zunächst einen Einblick in das Feld der Neuen Wohnformen zu geben und den Fokus dabei auf Projekte „Gemeinschaftliches Wohnen plus“ zu legen. Das ist ein Ansatz, bei dem Elemente gemeinschaftlichen Wohnens mit quartiersbezogenen Bausteinen für Teilhabe, Fürsorge, Pflege und Beratung verbunden werden. Solche Projekte wurden in Modellprogrammen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zuletzt vermehrt gefördert. Mit den Mitgliedern der AG Wohnen würde ich gerne diskutieren, ob dieser Ansatz für Menschen mit Conterganschädigung Potenzial hätte.

Ganz grundsätzlich müssen wir uns aber auch darüber austauschen, was ein gutes Wohnen generell für die Betroffenen im Alter beinhalten müsste. Davon ausgehend könnten wir dann „Prüfmarken“ entwickeln, zum Beispiel für Punkte wie Partizipation respektive Teilhabe, Nachhaltigkeit, Machbarkeit, Zugang, Wirksamkeit etc.

 

Sie arbeiten für die Bundesvereinigung FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e.V. Sehen Sie Anknüpfungspunkte zur Arbeit der Kommission, etwa in Form von Projekten?

 

Durchaus. Unsere Fachveranstaltungen sind für die Kommissionsmitglieder ebenso interessant wie unsere Kontakte zu Projekten, die Wohnangebote für besondere Wohnanforderungen integrieren. Projekte wie beispielsweise das im Rahmen des Modellprogramms „Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“ des BMFSFJ geförderte „Festland“ des gemeinnützigen Trägers „Hamburg Leuchtfeuer“ können hier gute Ideen- und Impulsgeberinnen sein. Impulse für das Entstehen von mindestens einem, im besten Falle mehreren gemeinschaftlichen Wohnprojekten von und mit Menschen mit Conterganschädigung, wären ein schönes Ergebnis.

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