Das Bild zeigt Prof. Dr. Martin, Mitglied der Expertinnen- und Expertenkommission

„Gemeinsam Schwachstellen benennen und Lösungen finden, die allen weiterhelfen“

Der Orthopäde Stephan Martin ist Mitglied in der Expertinnen- und Expertenkommission der Conterganstiftung. Als Leiter des Medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) an der DIAKOVERE in Hannover steht er zugleich einem von zehn multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung vor. CIP sprach mit ihm über seine Arbeit in der Kommission.

 

Herr Prof. Dr. Martin, Sie sind als ein Vertreter der Ärzteschaft Teil der Expertinnen- und Expertenkommission. Was hat Sie dazu bewegt, sich hier als Mitglied zu engagieren?

Ganz einfach: Ich wurde gefragt. Und: Ja, ich habe sehr viel Erfahrung in der Betreuung von Menschen mit Conterganschädigung und es gibt nicht viele Ärzte, die das von sich behaupten können. Deshalb sehe ich das als meine Aufgabe, hier mitzuwirken und mein Wissen weiterzugeben und mit anderen Fachleuten aus dem Gesundheitswesen zusammenzutragen. Menschen mit einer Conterganschädigung sind von einer eher seltenen Behinderung betroffen, da ist es umso wichtiger, dass wir einen guten Überblick über die aktuelle Situation bekommen und gemeinsam überlegen, was man verbessern kann.

 

Sie sind Facharzt für Orthopädie. Welche Rolle spielt Ihr Fachwissen innerhalb der Kommission in Bezug auf die drei Themenfelder medizinische Versorgung, psychosoziale Begleitung und Wohnen im Alter?

Ich habe in allen drei Bereichen Erfahrung, da ich in einer Einrichtung arbeite, die speziell ins Leben gerufen wurde, um Menschen mit Behinderung eine würdige Existenz zu ermöglichen. Unter einem Träger werden Wohnen, Schule, Ausbildung und medizinische Versorgung vereint. Ursprünglich nur die Orthopädie, nach einer Fusion mit zwei großen diakonischen Kliniken bieten wir jetzt fast das gesamte Spektrum der Medizin an.

Seit 2017 bin ich Leiter des medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderungen und bin dort im klinischen Bereich und in Wohneinrichtungen tätig. Deshalb sehe ich Vieles aus beiden Perspektiven. Auch die psychosoziale Begleitung spielt bei uns eine große Rolle. Viele Menschen mit Conterganschädigung werden bei uns in allen drei Themenfeldern betreut. Früher hatte ich eine rein orthopädische Sicht auf meine Patientinnen und Patienten – heute ist das anders, da bei uns die Fäden für sechs verschiedene medizinische Fachbereiche, Psychotherapie, Ergo- und Physiotherapie und den Sozialdienst zusammenlaufen. Wir halten interdisziplinäre Fallkonferenzen ab, was sich als sehr hilfreich erwiesen hat.

 

Und wie kann man sich als außenstehende Person die Arbeit in solch einer Expertenkommission vorstellen? Wie organisiert sich die Arbeit?

Die ganze Kommission besteht aus Fachleuten, die sich überlegen: Worum geht es hier und wie können wir die Problemstellungen beschreiben und am besten die Arbeit je nach Kompetenz und Wissen verteilen? Wir treffen uns in der großen Gruppe viermal im Jahr, davon zweimal in Präsenz. Es gibt ein Leitungsgremium, das sich um die Konzeptentwicklung und die Strukturierung einzelner Bereiche kümmert. Außerdem wurden Untergruppen gebildet – meine ist z.B. die gesundheitliche Versorgung. Wir bereiten Papiere vor, tragen Arbeitsergebnisse zusammen und machen das den anderen Untergruppen zugänglich. So können Dopplungen vermieden werden und wir stellen sicher, dass am Ende nichts vergessen wurde.

Die Zusammenarbeit in der Expertenkommission ist sehr bereichernd, weil man mit anderen zusammenarbeitet, die teilweise einen ganz anderen Blick auf das Thema haben. So entstehen interessante Diskussionen und man profitiert voneinander. Unser gemeinsames Ziel ist es, Defizite aufzudecken und Ideen zu entwickeln, wie etwas verbessert werden kann. Das dient dem schönen Ziel, Menschen weiterzuhelfen, indem man z.B. Verbesserungsmöglichkeiten bei der Gesetzgebung aufdeckt und Vorschläge für positive Veränderungen macht. Ein Beispiel: Noch ist es so, dass telemedizinische Konferenzen zwischen unterschiedlichen Fachärzten oder Facharzt und Hausarzt oft nicht vergütet werden. Wenn Ärzte das zum Wohle ihrer Patienten trotzdem tun, dann ist das meist unentgeltlich. Gerade für die Versorgung von Menschen mit seltenen Behinderungen wäre eine solche Möglichkeit außerordentlich wichtig. Das sind Lücken, die wir aufdecken. Und die Gesundheitspolitiker sind für solche Vorschläge dankbar.

 

Die DIAKOVERE Annastift in Hannover ist eins von insgesamt zehn multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren der Conterganstiftung. Sie leiten dort u.a. das Medizinische Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB). In der Kommission engagieren Sie sich besonders in der Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Versorgung“. Welche Erfahrungen aus Ihrer Arbeit im MZEB sind hier besonders hilfreich?

Wie bereits erwähnt ist es besonders meine interdisziplinäre Erfahrung mit Medizinerinnen und Medizinern anderer Fachbereiche, mit denen ich im MZEB quasi „Tür an Tür“ arbeite und im ständigen Austausch bin. Hinzu kommt, dass wir institutsinterne Fallkonferenzen haben und einen eigenen Sozialdienst für die Heil- und Hilfsmittelversorgung. So können wir Betroffenen sehr gut weiterhelfen. Dieses offene Arbeiten gibt es nicht so oft und da bringe ich meine Erfahrungen natürlich sehr gern ein. Wir dürfen übergreifend arbeiten, können Dinge auch mal anders machen und sind dennoch auskömmlich finanziert. Wir können viele Probleme ambulant lösen, die anderswo stationäre Behandlungen erfordern.

Die Conterganschädigung ist eine seltene Behinderung mit sehr vielen Ausprägungsformen. Die Betroffenen sind jetzt fast alle in ihren Sechzigern und viele ihrer Ärzte und Therapeuten haben längst das Rentenalter überschritten. Die Gruppe der erfahrenen Behandler wird kleiner. Deshalb muss man das Wissen und den Umgang mit den Folgen der Conterganschädigung erhalten und die Erfahrungen weiterentwickeln. Aber auch bei dieser Patientengruppe werden sich die medizinischen Bedingungen ändern, die Altersmedizin kommt hinzu und damit die „ganz normalen“ internistischen und chirurgischen Erkrankungen, von denen andere Menschen dieser Altersgruppe ebenfalls betroffen sind.

 

Das Endprodukt der Kommissionsarbeit soll ein Abschlussbericht mit passenden Handlungsempfehlungen speziell für Menschen mit Conterganschädigung sein, der dem Vorstand der Conterganstiftung vorgelegt wird. Inwieweit können Ihnen diese Empfehlungen auch bei Ihrer Arbeit im MZEB nützlich sein?

Jedes Gespräch, das ich innerhalb der Kommissionsarbeit mit Fachkolleginnen und -kollegen führe, ist wichtig für meine Arbeit – auch für die Arbeit im MZEB. Gemeinsam arbeiten wir alle daran, die Schwächen in der Organisation des Gesundheitswesens aufzudecken und Verbesserungsvorschläge zu machen – und das kommt letztlich ja auch meiner Arbeit im MZEB zugute, wenn sich etwas an den gesetzlichen Rahmenbedingungen ändert.

Wenn ein Hausarzt weiß, an welche Stelle er sich bei Fragen in Bezug auf Conterganschädigungen wenden kann, wenn ihm - um nochmal dieses Beispiel aufzugreifen - Videokonferenzen mit erfahrenen Ärzten vergütet werden, dann hilft das allen weiter. Das vermindert Schwellen und künstliche Barrieren, schafft Schnittstellen und vereinfacht die Zusammenarbeit. Wir versuchen aus Sicht der Betroffenen Schwachstellen im System zu benennen, Handlungsempfehlungen zu geben und Lösungen zu finden, die allen weiterhelfen.

 

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