Das Bild zeigt Prof. Dr. Andreas Kruse vor einem blauen Hintergrund

„Im Alter gibt es kein Immer-weiter-so!“

Die Gefahren von Stürzen - und daraus resultierende Knochenbrüche - sind für Menschen mit Conterganschädigung ein besonders relevantes Thema: Denn die Folgen sind bei ihnen meist schwerwiegender als bei Menschen ohne Behinderung. Bei der Prävention spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. So etwa die körperliche Konstitution, Erkrankungen oder das fortgeschrittene Alter - aber ebenso die Psyche. Darüber haben wir mit Prof. Dr. phil. Dipl. Psych. Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg gesprochen. Mit dem Interview setzen wir unsere kleine Serie zum Thema Sturzprävention fort.

 

Herr Professor Kruse, welche besondere Relevanz sehen Sie beim Thema Sturzunfälle bei Menschen mit Conterganschädigung? 

Zunächst möchte ich eine besondere Kompetenz von Frauen und Männern mit Conterganschädigung hervorheben: Nämlich ihre produktive, selbstständigkeitsförderliche Anpassung an die unterschiedlichsten Barrieren in der räumlichen Umwelt. In gewisser Hinsicht können wir Menschen mit Conterganschädigung als „Expertinnen“ und „Experten“ im Hinblick auf die Erkennung und Überwindung von räumlichen Barrieren beschreiben. Diese Expertise haben sie sich im Laufe ihrer Biografie in eindrucksvollem Maße erworben.

 

Heißt: Eine Besonderheit liegt im Umgang mit der Conterganschädigung selbst?

Das muss man so sagen. Aber selbstverständlich bleiben auch Frauen und Männer mit Conterganschädigung nicht verschont von den natürlichen Alterungsprozessen. Und die haben ihrerseits sehr wohl eine Relevanz für das Thema Sturzunfälle. So gehen die Reaktionsgeschwindigkeit in Wahrnehmung und Ausführung von motorischen Prozessen, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und schließlich auch die Beweglichkeit der Gelenke mit zunehmendem Alter zurück. Die Mobilität nimmt allgemein ab.

 

Die persönliche Erfahrung mit der Schädigung durch Contergan kann das nicht wettmachen…

Nein. Denn bei Frauen und Männern mit Conterganschädigung kommt noch die besonders wichtige Tatsache einer deutlich erhöhten Arthrose-Ausbildung hinzu, die ihrerseits wiederum negative Auswirkungen auf die Beweglichkeit hat. Aus all den genannten Gründen sind Stürze und Brüche daher ein wichtiges Thema. Die Frage der Prävention gewinnt mit zunehmendem Alter mehr und mehr an Bedeutung.

 

Wie geht man am besten mit dem Thema um?

Ist man sich der Problematik erst einmal vollumfänglich bewusst und lernt man die eigene körperliche Konstitution einzuordnen, werden digitale Hilfen immer wichtiger. Im Achten Altersbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Ältere Menschen und Digitalisierung“ haben wir einige Bewegungs-Apps genannt. Diese können eine wichtige präventive Rolle spielen, da sie Gangunsicherheiten sofort anzeigen. Da sieht man sehr schnell, wo Handlungsbedarf ist. Auch Angebote der Prävention und Rehabilitation mit dem Ziel der Vermeidung von Stürzen spielen eine sehr wichtige Rolle und sollten unbedingt genutzt werden. Dies gilt für ältere Menschen allgemein und noch einmal besonders für Frauen und Männer mit Conterganschädigung.

 

Sie sind auch Psychologe. Welche Bedeutung spielt die Psyche bei der Prävention von Sturzunfällen?

Die Psychologie stellt folgende Fragen: Inwiefern gelingt es dem Individuum, trotz der aufgebauten Expertise immer offen zu bleiben für mögliche neue Anforderungen in der räumlichen Umwelt? Wie kann man offen sein, ohne dabei unsicher zu werden? Wie stellt man sich immer wieder neu auf Herausforderungen ein?

 

Der Kopf spielt also eine entscheidende Rolle?

Wie im Grunde immer, ja. Man kann es auch mit dem Begriff der psychologischen Kontrolle umschreiben: Inwieweit gelingt es, die räumliche Umwelt zu „kontrollieren“? Entweder durch Veränderungen des Umfeldes, aber auch durch Anpassungen des eigenen Verhaltens. Das ist eine wichtige Aufgabe im Prozess des Älterwerdens, die sich auch Frauen und Männern mit Conterganschädigung stellt.

 

Prävention ist also eine Frage der Einstellung – zum Beispiel, was die Gefahrenvermutung angeht?

Zum einen muss das Individuum lernen, dass das Leben nicht einfach ein „Immer-weiter-so“ ist. Wir alle müssen unser Verhalten auf die besonderen Anforderungen, die uns in den einzelnen Lebensphasen gestellt sind, kontinuierlich anpassen. Besonders Menschen mit Conterganschädigung trauen sich möglicherweise zu viel zu – und dies kann bei Contergangeschädigten noch dadurch gefördert werden, dass sie immer Höchstleistungen erbringen mussten. Aber man muss seine eigenen Ressourcen genauso ernstnehmen und würdigen wie seine Verletzlichkeiten.

 

Also ist die Selbstwahrnehmung ein entscheidender Schlüssel?

Wichtig ist der differenzierte und realistische Blick. Zu diesem gehört auch, sich darüber zu informieren, inwieweit Prävention Ressourcen erhalten bzw. erweitern kann - und wie gleichzeitig Gefahren verringert werden können. Meine Erfahrung: An solchen Dingen hat jemand besonders dann Interesse, wenn er sich bereits vorgebildet hat und bereit war, die eigene Gesundheit bewusst „zu gestalten“.

 

Stürze stehen bei Unfällen im Haushalt auf Platz eins. Gibt es dafür aus Sicht des Psychologen eine Erklärung?

Hier sind drei Gründe besonders wichtig. Erstens mögliche Risiken innerhalb der Wohnung werden nicht erkannt: Man denke hier nur an die typischen Barrieren wie zum Beispiel umherliegende Kabel oder offenstehende Schubladen. Zweitens: Die Licht- und Beleuchtungsverhältnisse innerhalb der Wohnung sind nicht gut. In jenen Fällen, in denen das Alter auch Seheinbußen mit sich bringt, kann dieser Faktor ein immer größeres Risiko bilden. Zum Dritten: Die Menschen übertragen ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Mit anderen Worten: Sie denken, dass bestimmte Risiken für sie eben nicht gelten, weil sie diese in der Vergangenheit gut gemeistert haben. Das ist gefährlich und leider weit verbreitet.

 

Welche Faktoren sind dabei für die Betroffenen unter Umständen besonders relevant?

Alles steht und fällt mit der Organisation der Wohnung und des Wohnumfeldes. Daher sollte unbedingt die Wohnungs- und Wohnumfeld-Ausstattung zu einem großen Thema in der „Gesundheitspolitik“ gemacht werden. Hier kann die „Gesundheitsberatung“ eine wichtige Rolle spielen. Zudem muss genau geprüft werden, inwieweit die Wohnungs- und Wohnumfeld-Bedingungen noch in einem guten Verhältnis zu den eigenen körperlichen und funktionalen Fähigkeiten stehen. Hier kann man dann gegebenenfalls ansetzen. „Auch digitale Assistenz-Techniken dürfen nicht vergessen werden; sie können im Alltag wichtige Hilfen leisten; diese möglichen Hilfen sollten bei der Gesundheitsberatung thematisiert werden."

 

LINKS

„Ältere Menschen und Digitalisierung" (Achter Altersbericht der Bundesregierung, komplett)

„Mobilität: Selbständigkeit erhalten" Ausschnitt aus: Achter Altersbericht der Bundesregierung)