„Mein Roman ist ein Versöhnungsbuch auf den zweiten Blick“
Astrid Kolter kam 1962 mit einer Conterganschädigung auf die Welt. Ihr erster Roman „Poncho“, der im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, handelt zwar von einer jungen Frau mit Conterganschädigung, ist jedoch – darauf legt die Autorin Wert - keine Autobiografie, sondern handelt von Familiengeheimnissen und Tabus.
Sie haben im Beruf Karriere gemacht als Geschäftsstellenleiterin eines Finanzdienstleisters. Wann und warum haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
Astrid Kolter: So gradlinig verlief mein Lebensweg nicht. Nach meinem katholischen Theologiestudium erhielt ich eine halbe Stelle als Geschäftsführerin des Bundesverbandes Contergangeschädigter in Köln. Nebenbei machte ich als „Certified Financial Planner“ eine Ausbildung in einem Finanzdienstleistungsunternehmen im Innen- und Außendienst.
In der Finanzbranche waren gediegene, ältere Herren oder aufstrebende, karrieresüchtige Jungmanager an der Tagesordnung. Frauen waren eher die Ausnahme. Ich war jung, ehrgeizig, geprägt durch mein Theologiestudium und getrieben von meinem eisernen Willen, in der Finanzdienstleistung einiges zu bewirken.
Ursprünglich wollte ich Menschen mit Behinderungen beraten. Bei meinen Kundenbesuchen stellte ich jedoch fest, dass Eltern wie selbstverständlich am Tisch sitzen blieben. Sie kümmerten sich um die Finanzen meiner Klienten als letzte Bastion von Fürsorge. Im Alter von Mitte zwanzig haben mein Mann Stephan und ich dann geheiratet. Mitte dreißig stellte sich Nachwuchs (zwei Kinder) ein. Als berufstätiges Ehepaar war das eine sehr schöne Zeit. Zwar aufregend, aber nicht ohne. Mein Mann ist beruflich kürzergetreten. Es hätte so schön sein können, aber
2008 hatte ich einen Schlaganfall mit einer Halbseitenlähmung und einer schweren Aphasie. Ich konnte nicht mal 50 Wörter sprechen. Das Autorendasein rückte in weite Ferne. Hauptsache ist, dass unsere Familie nicht daran zerbrach. Stephan hat unseren Kindern so etwas wie Normalität gegeben. Logopädie, Ergo- und Physiotherapien bestimmten mein Dasein. 2017 habe ich schweren Herzens die Finanzdienstleistung aufgegeben.
Ich war therapiemüde. Logopädie hing mir zum Hals heraus. Ich entschied mich, ein Fernstudium des Literarischen Schreibens an der Cornelia-Goethe-Akademie zu machen. Jetzt konnte ich das Schreiben ausleben. Als junges Mädchen habe ich immer gerne geschrieben: Erzählungen, Prosa, Gedichte und sogar einen kleinen Roman. Ein unbekannter Schreiber hat mal gesagt: Lebenskunst bedeutet zu lieben, was man tut, nicht, zu tun, was man liebt. Dem schließe ich mich an.
Ähnlich Mariele, der Hauptfigur von „Poncho“ sind Sie als Kind eines Frisörehepaares aufgewachsen und haben eine Conterganschädigung. Wieviel Autobiografisches steckt eigentlich sonst noch in Mariele?
Astrid Kolter: Unter anderem ist der Roman eine Hommage an den Friseurberuf. Ich liebte die Tage in unserem Geschäft. Ich wollte für meine Eltern ein bleibendes Andenken schaffen.
Der Ort, in dem der Roman spielt, Büllesdorf, ist sehr stark an Flamersheim, meinen Heimatort, angelehnt. Flamersheim war ursprünglich ein „Judendorf“.
Ich frage mich immer: Was ist Wahrheit oder künstlerische Freiheit in meinem Roman? Es könnte so gewesen sein, mehr aber auch nicht.
Fast jeder Roman hat autobiografische Bezüge.
Das jüdisch-arisierte Haus schafft eine Existenzgrundlage für die Conterganfamilie. Sowohl eine Existenzsicherung monetärer Art als auch eine, die auf Kommunikation ausgerichtet ist: Kundinnen, Freunde, Angestellte und Verwandte gehen ein und aus. Da ist die (unwissentliche) Schuld aufseiten der Familie Welsch. Im ersten Teil deckt Mariele die Schuldfrage auf. Für mich stellt sich die Frage: Können Menschen nur Schuldige oder Opfer sein, oder sind sie beides zugleich?
Mariele wird als sehr lebensbejahend, positiv und zupackend dargestellt. Sie scheint kaum mit ihrem Schicksal zu hadern oder sich von ihrer Behinderung aufhalten zu lassen. Sie wirkt - im Gegensatz zu Malu - nie wie ein Opfer. Wie ähnlich sind Sie ihr?
Astrid Kolter: Wer mich kennt weiß, dass Mariele mein alter Ego ist. Sie pflegt und schützt ihr inneres Kind, ist kreativ, recherchiert, diskutiert, entwickelt Stränge und bringt Contergan ins Gespräch. Sie kehrt die Rollen - Täter und Opfer - um.
Sie hat auch komische Elemente im Gepäck. Zu Malu: Sie steht für die aktuelle Generation der Inhaberfamilie, die ihr Erbe zum Teil als Bürde empfindet.
Die Protagonistin von „Poncho“ ist von einer Conterganschädigung betroffen. Aber das Buch ist auch ein Familienroman, es geht um die Schuld der Nazi-Generation und um lesbische Liebe. Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen? Was war ihre Motivation?
Astrid Kolter: Mein Mann Stephan kam auf die Idee einen Roman zu schreiben.
Eins stand fest: Ich wollte keine Autobiografie schreiben, sondern etwas Spannendes. Auf einmal kam mir die Idee, eine Familien-Saga über eine contergangeschädigte Frau in Kurzformat zu schreiben. Der Roman ist bespickt von schmerzhaften Familiengeheimnissen. Ich wollte Marieles Geschichte erzählen, über die Vorteilnahme des jüdischen Hauses ihres Großvaters bis hin zu ihrer lesbischen Liebesbeziehung zu Malu, deren Eltern Inhaber der Herstellerfirma von Contergan sind. Durch den Wechsel ihres Familiennamens anlässlich Malus Hochzeit deutet nichts auf ihre Vergangenheit hin. Die lesbische Beziehung gehört somit zum Plot des Familiengeheimnisses. Die Grenze verschwimmt immer mehr. Wer ist Täter und Opfer? Meine Motivation war, dass Geschichten nie schwarz oder weiß sind. Romane sind wie das wirkliche Leben: Facettenreich und sie nehmen Zwischentöne auf. Ich bin nicht interessiert an der ersten Generation, die Contergan hergestellt hat, sondern an der aktuellen, für die Malu steht. Daher ist mein Roman ein Versöhnungsbuch auf den zweiten Blick. Das Ende bleibt offen.
Das Mädchen im roten Poncho taucht immer wieder in dem Buch auf. Als reale Figur aber auch als Symbol. Wofür steht es?
Astrid Kolter: Ponchos sind für viele ein modisches Accessoire.
Aber Ponchos haben viele Contergangeschädigte getragen, um die Behinderung zu verbergen. Auch ich habe als kleines Kind einen roten Poncho getragen.
In der Nachkriegszeit steht der Poncho sinnbildlich für die Tabus, die es in jeder Familie gibt. Jeder kennt das Sprichwort: Unter den Teppich (Poncho) kehren.
Contergan ist eine individuelle Traumaerfahrung für Mütter, Familien, engste Angehörige, Partnerinnen und Partner. Das persönliche Trauma ist immer tabuisiert worden. Und nicht nur das: Contergan ist eine kollektive, gesellschaftlich-politische Traumaerfahrung. Wir sind eine kollektive Traumatruppe...
Im Buch taucht immer wieder die Figur „Dr. Mücke“ auf - als verantwortlicher Forschungsleiter des Pharmakonzerns. Warum war Ihnen das wichtig, diese Person einzubauen?
Astrid Kolter: Mücke ist eine Schlüsselfigur des Conterganskandals. Er verkörpert in der Nachkriegszeit, dass wirtschaftlicher Erfolg über menschliche Schicksale gestellt wurde. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist er eine Symbolfigur für Verflechtungen politischer Macht und Arbeit in hochrangigen Positionen.
Es geht in dem Buch auch um zwei Familiengeschichten. Sie schreiben an einer Stelle, dass an der Geburt von Kindern mit Conterganschädigung oftmals Familien zerbrechen. Hier ist es allerdings anders: Da hält und wächst die Familie von Mariele zusammen, während die von Malu - des gesunden Mädchens - zerbricht. Warum haben Sie die Geschichte auf diese Weise erzählt?
Astrid Kolter: Im Grunde genommen geht es um drei Familien: Die jüdische Familie
die Familie, die Contergan hergestellt hat und die Familie Welsch.
Ich setze einen Kontrapunkt. Geld ist nicht alles. Ich wollte die komplexen familiären Beziehungen zwischen unterschiedlichen Standpunkten, Erfahrungen und Gefühlen hervorheben. Malu wird dem familiären Spannungsverhältnis nicht gerecht. Sie zerbricht daran. In Band 2, den ich gerade schreibe, ist es genau andersherum.
Kann das Buch einen Beitrag zu einem breiteren Verständnis der einzigartigen Situation von Menschen mit Conterganschädigung leisten?
Astrid Kolter: Der Roman bringt das fast vergessene Thema Contergan in den Fokus. Er leistet Aufklärungsarbeit. Sonst hätte ich das Buch nicht geschrieben. Aufklärungsarbeit und Unterhaltung schließen sich nicht aus. Durch Lesungen versuche ich dieser Aufklärungsarbeit Breitenwirkung zukommen zu lassen.
Wie sieht Ihr Tagesablauf als Autorin aus? Wie arbeiten Sie, welche Hilfsmittel nutzen Sie?
Astrid Kolter: Ich habe rund vier Jahre an meinem Buch gearbeitet. Ein Drittel der Arbeit war Recherche, die Suche nach meinem Lektorat und der Graphikerin. Zwei Drittel habe ich geschrieben, geschrieben, geschrieben… Am frühen Morgen, mittags, am Nachmittag, abends und vor allem nachts.
Ich habe das komplette Manuskript und auch die Recherche auf meinem Handy verfasst. Ich ging immer mit Papier und Stift aus dem Haus. 2024 kam mein Roman über Amazon heraus. Das heißt, ich ging kein finanzielles Risiko ein und die kompletten Rechte liegen bei mir.
Hat Ihre Arbeit als Schriftstellerin Ihr Leben verändert? Wenn ja: Wie?
Astrid Kolter: Ich bin dankbar, dass mir so liebe Menschen geholfen haben, das Buchprojekt zu verwirklichen.
Sie sprachen eben schon an, dass Sie an einer Fortsetzung des Romans arbeiten. Was dürfen wir literarisch als nächstes von Ihnen erwarten?
Astrid Kolter: Ich habe Blut geleckt. Anfang Februar begann ich mit dem zweiten Band. Band 2 hat sich aus „Poncho“ entwickelt. Familie hat viele Gesichter. Stand in „Poncho“ die Liebesgeschichte von den zwei ganz unterschiedlichen Frauen im Vordergrund, geht es im zweiten Band um Philipp und Mariele. Vater und Tochter begeben sich auf eine innere Reise zu sich selbst. Mariele erfährt, dass sie eine Halbschwester hat, die sie auf Umwegen kennenlernt. Sie muss mit den Veränderungen in der Familie zurechtkommen.
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