Das Bild zeigt Christina Marx Sprecherin der Aktion Mensch

„Menschen mit Behinderung kennen ihre Rechte und fordern sie ein.“

Die „Aktion Mensch“ ist die größte private Förderorganisation im sozialen Bereich in Deutschland. Seit fast 60 Jahren arbeitet sie erfolgreich und unterstützt heute mit den Einnahmen aus ihrer Lotterie jeden Monat bis zu 1.000 soziale Projekte. Der Conterganskandal war maßgeblich für die Gründung der Organisation verantwortlich, die zunächst unter dem Namen „Aktion Sorgenkind“ startete. Zu den Ursprüngen, Erfolgen und zur gegenwärtigen Arbeit haben wir Sprecherin Christina Marx in Bonn befragt.

 

Frau Marx, ein Auslöser für die Gründung der damaligen Aktion Sorgenkind war in den 1960er Jahren der Conterganskandal.

Das Thema Behinderung war damals ja noch ein Tabuthema. Ganz entscheidend waren die Eltern der Kinder mit Conterganschädigung. Sie haben den Skandal erst publik gemacht und so ein Bewusstsein in der Bevölkerung für die Situation der Kinder und ihrer Familien geschaffen. Das war etwas völlig Neues.

 

Die junge Republik musste den Umgang mit Menschen mit Behinderung erst lernen?

Und davor erst einmal erfahren, dass es sie überhaupt gibt! Die Berichterstattung ging damals maßgeblich vom „Gesundheitsmagazin Praxis“ und dem ZDF-Medizinjournalisten Hans Mohl aus. Er brachte die Bilder von den Kindern, die unter schlimmen Bedingungen in den damals so genannten „Anstalten“ lebten, erstmals ins Fernsehen, berichtete über den Conterganskandal und schuf so bei einer breiteren Öffentlichkeit ein Bewusstsein für das Thema.

 

Was bewirkte die Berichterstattung?

Auf die Berichterstattung gab es sehr viele Reaktionen, und viele forderten, man müsse dringend etwas für die Kinder tun. So entstand die Idee einer Fernsehlotterie. Die brauchte natürlich einen organisatorischen und strukturellen Rahmen. So hat das ZDF dann gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden die Aktion Sorgenkind als gemeinnützigen Verein gegründet. Und diese Struktur ist im Grunde bis heute die gleiche geblieben.

Auch die Grundidee ist unverändert: Mit ihrem Los unterstützen die Lotterieteilnehmer*innen – heute sind es rund vier Millionen – über die Förderung der Aktion Mensch Initiativen und Projekte, die die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, Kindern und Jugendlichen verbessern. So sind seit der Vereinsgründung bereits über vier Milliarden Euro in soziale Projekte geflossen. Daher unser Motto: „Das WIR gewinnt.“

 

Wo setzte die Aktion Sorgenkind ihre Schwerpunkte?

Damals herrschte noch ein strenger, rein medizinischer Blick auf das Thema Behinderung. Der Ansatz war, dass man jede Erkrankung oder Schädigung irgendwie heilen könne. Auch der Gedanke der Fürsorge war daher sehr ausgeprägt. Man fand, man müsse für diese Kinder sorgen. Die inklusive Perspektive kam erst später.

 

Im Jahr 2000 wurde aus der Aktion Sorgenkind die Aktion Mensch. War das die Initialzündung für eine Neuausrichtung der Arbeit?

Eher umgekehrt, die Umbenennung stand am Ende einer gesellschaftlichen Entwicklung. Die Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit von Menschen mit Behinderung hatte sich inzwischen geändert. Es gab etwa die gesellschaftspolitisch engagierte „Krüppel-Bewegung“, wie sie sich selbst nannte, die sagte: Wir wollen euer Mitleid nicht! Dieser Paradigmenwechsel ging einher mit dem Anspruch auf Selbstvertretung und gesellschaftliche Anerkennung.

Dementsprechend hat sich auch unser Ansatz verändert: Wir haben in den 90er Jahren zum Beispiel die Kampagne „Ich will kein Mitleid, ich will Respekt!“ initiiert. Heute geht es um Teilhabe und Selbstbestimmung, das Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Die Umbenennung war also nicht der Auslöser für eine andere Ausrichtung, sondern Folge einer konsequenten Entwicklung.

 

Wie weit hat sich das gesellschaftliche Umfeld geändert?

Das Bewusstsein in der Bevölkerung für das Thema Behinderung ist inzwischen durchaus vorhanden. Viele Menschen mit Behinderung kennen heute ihre Rechte und fordern sie aktiv ein. Die Impulse gehen also viel mehr von ihnen aus, nicht von uns oder anderen Organisationen. Sie sagen, was sie brauchen und sich wünschen, beklagen aber zu Recht, wie schwer es oftmals ist, ihre Rechte durchzusetzen.

Der Prozess der Inklusion geht insgesamt aber sehr langsam voran und es ist immer noch viel zu tun. Zwar gibt es Bereiche, in denen Inklusion schon gut funktioniert. Oft gibt es aber auch dort noch strukturelle Probleme, etwa bei der Barrierefreiheit. Das muss dringend angegangen werden, sonst ist eine echte Teilhabe nicht zu erreichen. Und das selbstverständliche Miteinander im Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung ist noch lange nicht überall Normalität.

 

Spielt das Thema Contergan heute noch eine Rolle bei der Aktion Mensch, etwa bei Projekten für die Geschädigten?

Wir fördern Projekte in verschiedenen Lebensbereichen. Also beispielsweise zum Thema Wohnen, zur barrierefreien Mobilität, Arbeit, Freizeit oder auch Persönlichkeitsstärkung. Ein eigenes Förderprogramm, gezielt und direkt für Menschen mit Conterganschädigung, gibt es nicht. Aber natürlich können sie – je nach Bedarf und individueller Situation – über die genannten Bereiche an den Projekten partizipieren und so von unserem Förderangebot profitieren.

 

LINK

Aktion Mensch

 

Foto © Aktion Mensch