Das Bild zeigt Katja Held von der Conterganstiftung

„Nur im Team lässt sich dieses komplexe, zukunftsrelevante Projekt steuern“

 

Insgesamt zehn multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentren haben sich jetzt bundesweit zu einem Netzwerk für die Betreuung und Beratung von Menschen mit Conterganschädigung zusammengeschlossen. Damit ist der erste Schritt des Auftrags an die Conterganstiftung erfolgreich abgeschlossen. Jetzt geht es an den Ausbau von spezifischen Leistungen und die Vernetzung untereinander sowie in der Fläche. Katja Held, die das Projekt bei der Conterganstiftung leitet, wirft einen Blick zurück und beschreibt die nächsten Schritte bei der Umsetzung.

 

Frau Held, die Conterganstiftung fördert seit 2023 zehn multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentren. War es schwierig, zehn Kliniken zu finden, die Ihren Anforderungen entsprechen?

Die Conterganstiftung ist sehr dankbar, dass bereits zwei Jahre nach Start der Förderung das planerische Ziel, insgesamt zehn medizinische Einrichtungen entsprechend der Verteilung der Betroffenen im Bundesgebiet zu fördern, erreicht wurde. Besonders unter den erschwerten Bedingungen während der Corona-Pandemie und zuletzt der Energiekrise. Denn in diesen Zeiten lag der Fokus der potentiellen Einrichtungen auf dem Management dieser außergewöhnlichen Krisen. Personalressourcen waren dementsprechend gebunden und finanzielle Beteiligungen für ein Contergan-Projekt nur schwer zu allokieren.

Trotz dieser erschwerten Marktbedingungen haben unsere Anstrengungen Früchte getragen. Um die Einrichtungen und die Betroffenen bundesweit über den geplanten Aufbau von Kompetenzzentren zu informieren, haben wir die folgenden Partner mit der Bitte um Bekanntmachung innerhalb ihres fachspezifischen Netzwerkes angesprochen:

  • Ärzteblatt (Länder, Bund)
  • Deutsche Krankenhausgesellschaft
  • 53 Klinikverbände bundesweit
  • 30 Empfehlungen der Betroffenen
  • Deutsche Rentenversicherung
  • Medizinische Fachzeitschriften
  • Interessenverbände der Menschen mit Conterganschädigung

Darüber hinaus hat die Conterganstiftung regelmäßig über ihre Website informiert und so auch die politischen Entscheidungsträger erreicht.

 

Das Vorhaben ist nun gemäß dem politischen Auftrag erfüllt, jetzt beginnt die Arbeit. Was steht als Nächstes an?

Richtig. Die Zentren sind akquiriert - nun gilt es, sie entsprechend der medizinischen Bedarfssituation mit ihren eigenen Fachkompetenzen auszubauen. Dazu muss man wissen, dass die Einrichtungen eine unterschiedliche Grundausrichtung haben. Zudem befinden sich die Einrichtungen in einem unterschiedlichen conterganspezifischen Entwicklungsstand und decken unterschiedliche Fachrichtungen ab.

Betonen möchte ich an dieser Stelle, dass alle Einrichtungen mit einem großen Engagement gestartet sind. Wir sind begeistert, mit welchen Projekt-Ideen die Einrichtungen auf uns zukommen. Die Zentren entwickeln sich stetig weiter. Durch die Arbeit mit den Betroffenen und die Vernetzung untereinander gewinnen sie immer mehr Erkenntnisse, die dazu dienen, die Projektideen fortzuschreiben.

Unser Ziel ist es, die zehn Zentren langfristig zu fördern und auch bei der Weiterentwicklung ihrer Ideen zu unterstützen. Dazu dient auch die Vernetzungsstrategie. Sie begleitet strukturell die Netzwerkarbeit der Zentren untereinander, damit sich das Angebot auch flächendeckend ausbreiten und bekannt gemacht werden kann.

 

Die Zentren haben verschiedene Schwerpunkte, unterschiedliche Historien, teilweise langjährige oder kaum Erfahrung mit Betroffenen. Wie wirkt das zusammen?

Das stimmt. Jedes Zentrum hat, wie schon zuvor angesprochen, eine individuelle Ausrichtung, einen individuellen Schwerpunkt und bringt einen eigenen Erfahrungswert mit.

Wir haben zum einen Rehabilitationseinrichtungen, zum anderen aber auch Maximalversorger, Akutkrankenhäuser, Facharztpraxen sowie Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (sog. MZEB). Die Schwerpunkte in den Fachrichtungen divergieren u.a. zwischen Orthopädie, Neurologie und Psychotherapie. Die Erfahrungsbandbreite reicht dabei von einer über 20-jährigen Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit Conterganschädigung (z.B. Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik) bis hin zu Neulingen (z.B. Contergan-Zentrum - CZA - Uniklinik Aachen).

Diese Heterogenität spiegelt die Vielfalt der Schädigungsmuster der Betroffenen wider und führt über die Netzwerkstruktur zur bestmöglichen Versorgung der Betroffenen. Zentren mit weniger Erfahrung in der Behandlung von Betroffenen können von dem Erfahrungsreichtum der anderen Zentren profitieren. Die Zentren, die sich erst seit kurzem in der Förderung befinden, beschreiten oftmals ganz neue Wege und bringen frische Behandlungsansätze mit.

 

Die Zentren sollen die individuellen Bedarfe von Menschen mit Conterganschädigung berücksichtigen. Wie wurden und werden die Betroffenen in die Entscheidungsprozesse eingebunden?

Bevor die Conterganstiftung die Richtlinie zur Förderung der Zentren entwickelt hat, wurden die konkreten Bedarfe und Wünsche im Rahmen eines großen Workshops unter der Beteiligung einer Vielzahl von Betroffenen eruiert. Herausgekommen ist ein umfangreiches Anforderungsprofil: Das sog. Kompetenzprofil gibt u.a. Anforderungen an Fachrichtungen, Therapien, Ausstattungen sowie die regionale Verteilung vor. Dieses ist für die Conterganstiftung aber auch für die Einrichtungen ein hilfreiches Instrument, um die Erwartungen an den Aufbau der bundesweiten Zentren abzudecken.

Auch bei der Akquise der Zentren wurden die Betroffenen gezielt um Nennung von geeigneten Einrichtungen gebeten. Daraus konnten einige Einrichtungen direkt kontaktiert und im Ergebnis auch zwei Einrichtungen für eine Förderung gewonnen werden. Des Weiteren erhält der Stiftungsrat, in dem zwei Betroffene vertreten sind, Kenntnis über jeden Förderantrag und jedes Projekt und hat die Gelegenheit, Rückfragen zu stellen.

Letztlich setzt sich die Beteiligung der Betroffenen in der aktiven Vernetzungsstrategie fort, indem beispielsweise gemeinsame Besichtigungen der Zentren erfolgen oder Verbandspatenschaften zur dauerhaften inhaltlichen Begleitung ins Leben gerufen werden.

 

Sie sprechen das Thema „Vernetzung“ an. Wie steuern Sie diese, wie wird der Austausch sichergestellt?

Die Schaffung einer agilen Netzwerk- und Versorgungsstruktur ist bereits seit Beginn der Ausgestaltung der Kompetenzzentren im Jahr 2020 ein wichtiger Baustein.

Hierzu wurden und werden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Darunter die Veranstaltung von Gesamt- und Regionaltreffen im zweijährigen Wechsel, die zum regelmäßigen fachlichen Austausch unter den Zentren und mit ortsnahen Netzwerkpartnern dienen. Darüber hinaus werden alle Einrichtungen in ihrem jeweils zweiten Förderjahr von der Stiftung und Betroffenenvertretern im Stiftungsrat besichtigt, um einen Eindruck über die Umsetzung der Projekte vor Ort sowie deren Fortschritte zu erhalten und in den gemeinsamen Austausch zu treten.

Damit die Zentren immer wieder auch auf den (sich ändernden) Bedarf der Betroffenen eingehen können, sind so genannte Verbandspatenschaften initiiert worden. Hierbei gehen die Landesverbände entsprechend ihrer regionalen Zugehörigkeit eine Patenschaft mit einem Kompetenzzentrum ein. Somit können die Betroffenen Bedarfe direkt an die Einrichtungen spiegeln. Die Einrichtungen erhalten wiederum Gelegenheit diese im Förderverfahren zu beantragen.

Um eine flächendeckende bedarfsgerechte Versorgung zu gewährleisten, ist es unabdingbar auch die ortsnahen und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in die Struktur einzubinden und über das Angebot zu informieren. Hierzu erhalten die Betroffenen Anfang 2024 ein Konvolut aus Flyern aller zehn Kompetenzzentren, um diese an ihre jeweiligen Vertrauensärzte und -therapeuten weiterzugeben.

 

Haben Sie Beispiele von Projekten oder besonderen Schwerpunkten, die an den einzelnen Kompetenzzentren angesiedelt sind?

Die Einrichtungen bringen sowohl in ihrem grundsätzlichen Schwerpunkt als auch hinsichtlich der Projektidee Vielfalt und Varianz mit sich. So implementiert die orthopädische Rehabilitationsklinik Hoher Meißner u.a. eine Videosprechstunde, um für die Betroffenen überall zugänglich zu sein. Die Dr. Becker Rhein-Sieg Klinik konzentriert sich in ihrem MZEB u.a. auf den Aufbau einer nichtmedikamentösen Schmerztherapie für die Betroffenen. Auch das Angebot einer niederschwelligen Sprechstunde ist ein Schwerpunkt, bei dem sich die Uniklinik Köln auf die Behandlung psychosomatischer und psychotherapeutischer Problemlagen der Betroffenen konzentriert.

Was fast alle Einrichtungen verbindet, ist der Abbau von Barrieren durch Umbau von Patientenzimmern oder Ergänzung der Ausstattung der Einrichtung. Auch die fachspezifische Schulung von Personal ist in der Regel Bestandteil der Förderung.

 

Das Wissen über die Menschen mit Conterganschädigung soll auch in die Pflege hineinwirken, und auch niedergelassene Arztpraxen sollen davon profitieren. Wie kann das nachhaltig gelingen?

Wie bereits erwähnt, soll dies durch die gezielte Einbindung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der Regionaltreffen erfolgen, aber auch durch die Zurverfügungstellung der Kompetenz-Flyer in der Breite. Denn das Fachwissen der einzelnen Zentren kann nur in der Zusammenarbeit mit niedergelassenen Akteuren aus Medizin und Pflege gestreut und nutzbar gemacht werden.

Das agile Netzwerk muss hierbei stetig angepasst und erweitert werden. Dabei setzt die Conterganstiftung auf die Zentren, aber - noch wichtiger - auch auf die Betroffenen selbst. Wir sind immer dankbar für Hinweise und Empfehlungen.

 

Auch die Gefäßstudie ist in diesem Frühjahr gestartet. Sollen deren Ergebnisse für die Arbeit in den Kompetenzzentren nutzbar gemacht werden?

Die Gefäßstudie ist glücklicherweise endlich angelaufen. Sobald hieraus verwertbare Ergebnisse gewonnen werden, haben diese sicherlich auch Auswirkung auf die Arbeit der Kompetenzzentren. Denn jede wissenschaftliche Erkenntnis, die genutzt werden kann, um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, ist wertvoll und sollte Beachtung finden.

 

Frau Held, ein Wort zum Schluss:

Der Erfolg der multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für die Betroffenen hängt im Wesentlichen von der Zusammenarbeit aller Beteiligten - also der Betroffenen, der medizinischen Einrichtungen und der Conterganstiftung - ab. Denn nur im Team lässt sich dieses komplexe und zukunftsrelevante Projekt bestmöglich steuern.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die in diesem Jahr stattfindende Evaluierung des Fünften und Sechsten Änderungsgesetzes zum Conterganstiftungsgesetz hinweisen. Diese verfolgt das Ziel, festzustellen, wie sich der Aufbau von multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren auf die medizinischen Beratungs- und Behandlungsangebote für Menschen mit Conterganschädigung ausgewirkt hat und welche Optimierungsmöglichkeiten bestehen.

 

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