Steffens und Lenhard-Schramm

„Ohne Betroffene kann es keine Kommission geben“

Die 14-köpfige Expertinnen- und Expertenkommission der Conterganstiftung nimmt im Dezember 2023 ihre Arbeit auf. Über die Themen und zentralen Aufgaben des Gremiums haben wir mit den Vorsitzenden Barbara Steffens und Dr. Niklas Lenhard-Schramm gesprochen.

 

Frau Steffens, Herr Dr. Lenhard-Schramm, Sie sind die Vorsitzenden der durch die Conterganstiftung neu eingerichteten Expertinnen- und Expertenkommission. Warum braucht es diese Kommission?

 

Barbara Steffens: Beim Älterwerden kommen Einschränkungen und damit veränderte Bedarfe automatisch. Das gilt für jeden Menschen, aber für Menschen, deren Körper durch Contergan geschädigt wurde, in besonderem Maße. Es braucht Antworten, Lösungen und Angebote.

Dr. Lenhard-Schramm: Menschen mit Conterganschädigung erreichen nun ein Alter, in dem zusätzliche Herausforderungen auf die ohnehin lebensbegleitende Behinderung treffen. Hierdurch sind sie von einer Verschlechterung ihrer Lebenssituation und Teilhabemöglichkeiten bedroht. Dies wiegt für die Betroffenen, welche bisher überaus selbstbestimmt leben, besonders schwer und bedarf gezielter Aufmerksamkeit. Daher ist es wichtig, dass sie gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen Professionen daran arbeiten, um diesem Autonomieverlust in Zukunft zu begegnen. 

 

Es gibt drei Kernthemen, mit denen sich die Kommission in den nächsten Jahren befassen wird: Medizinische Versorgung, Wohnen im Alter, und Psychosoziale Begleitung. Können Sie kurz erläutern, warum gerade diese Bereiche?

 

Steffens: Die medizinische Versorgung wird mit steigendem Alter immer wichtiger. Die Mobilität, zu speziellen Versorgungseinrichtungen zu kommen, wird mühsamer. Deswegen müssen wir Wege finden, auch durch digitale Angebote der vorhandenen Expertise, die Versorgung zu den Menschen zu bringen, statt die Menschen zur Versorgung.

Lenhard-Schramm: Die Frage, wie wir wohnen wollen, beschäftigt sicher viele Menschen jeden Alters. Besonders herausfordernd ist sie jedoch in Kombination mit dem Thema Alter und Behinderung. Verschiedene Wohnangebote und Wohnformen sollen das Potential mitbringen, der individuellen Lebenssituation der Betroffenen gerecht werden zu können. Sprich: keine Anpassung des Menschen an den Wohnraum, sondern des Wohnraums an den Menschen. Hier ist auch das Abweichen von zumeist nicht gewünschten oder adäquaten stationären Wohnformen, wie einem sogenannten Altenheim, zu nennen.

Steffens: Verschiedene Fragenstellungen sind hier zentral. Wie will man leben im Alter, mit wem und mit welchem Unterstützungsbedarf? Gibt es einen Bedarf an eigenen Wohngemeinschaften, an besonders qualifizierten Pflegediensten? Wie kann all das bei dem herrschenden Fachkräftemangel sichergestellt werden? Und über allem steht die Frage: was übernehmen die Sozialgesetzbücher regelhaft und was ist durch sie nicht abgedeckt, aber zwingend notwendig?

Lenhard-Schramm: Eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation, eine drohende häusliche oder die Veränderung der Lebenssituation bringen wiederum enorme psychische Belastungen mit sich. Der Aspekt psychosoziale Begleitung darf daher ebenso nicht vernachlässigt werden, besonders da der Bedarf hoch ist und es an Angeboten gerade für Menschen mit Einschränkung mangelt. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Vermeidung von sozialer Isolation, Einsamkeit und Diskriminierung zu betrachten.

Die drei Arbeitsschwerpunkte stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich gegenseitig. Sie alle vereint, dass sie zur Teilhabe und Verbesserung der Lebensqualität beitragen sollen.

 

Der Kommission gehören insgesamt 14 Personen aus verschiedenen Fachbereichen an. Darunter auch Betroffenenvertretungen. Wie wichtig sind diese für die Arbeit der Kommission?

 

Lenhard-Schramm: Eine solche Kommission ohne die Betroffenen ist undenkbar und würde die Ergebnisse ad absurdum führen. Sie sind in diesem Gremium wie alle anderen als Expertinnen und Experten vertreten, und nur mit ihnen gemeinsam kann das Vorhaben Bestand haben. Keine Expertin und kein Experte ohne Conterganschädigung kann die Lebenssituation der Betroffenen in Gänze nachvollziehen, sondern lediglich dazu beitragen, Problemlagen zu erfassen und bei der Entwicklung von Handlungsoptionen mitzuwirken.

Steffens: „Nicht über uns ohne uns“ ist einer der Kernsätze der Behindertenrechtskonvention. Ich weiß vielleicht für mich selbst, wie ich alt werden möchte und was ich vom Gesundheitssystem erwarte. Aber all diese Fragen kann ich nicht für Betroffene beantworten. Wir brauchen daher ihren Blick, ihre Bedarfe und ihre Wünsche, um dann gemeinsam zu sehen, was realisierbar ist und was wir dazu an Veränderungen benötigen. Sie sind die ExpertInnen in eigener Sache. Ohne Betroffene kann es keine Kommission geben – und gegen die Betroffenen keine Ergebnisse.

 

Wie bringen Sie Ihre eigene Expertise als langjährige politische Begleiterin bzw. als Historiker zum Themenkomplex Contergan ein?

 

Steffens: Ich kenne politische Entscheidungsprozesse ebenso wie die politisch beschlossenen Sozialgesetzbücher, aber auch die AkteurInnen wie die ambulanten und stationären Leistungserbringer und Kostenträger. Soweit man dieses hochkomplexe System überhaupt verstehen kann, glaube ich es zu verstehen. Und dieses Verständnis kann ich gut einbringen; verstehen, erklären, übersetzen. Denn Forderungen müssen am Ende realisierbar sein und von denen verstanden werden, die sie realisieren müssen.

Lenhard-Schramm: Ich bin dankbar, bereits seit einigen Jahren mit meiner wissenschaftlichen Arbeit das Thema Contergan immer wieder wach zu halten. Gerade wenn man sich mit zukunftsorientierten Fragen befasst, kann ein Blick in die Geschichte nicht schaden – auch, um aus Unzulänglichkeiten und Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Zudem habe ich über die Jahre in den gemeinsamen Gesprächen und dem teils engen persönlichen Kontakt mit den Betroffenen viel gelernt. Ich hoffe, dass ich meine Erfahrungen aus diesen Kontakten, aber auch aus meiner wissenschaftlichen Arbeit, gewinnbringend einbringen kann.

 

Die Kommission tritt an, um passende Handlungsempfehlungen zu erarbeiten und später in einem Bericht an die Conterganstiftung zu übergeben. Was erhoffen Sie sich von dieser gemeinsamen Arbeit?

 

Steffens: Ein Bericht mit Handlungsempfehlungen dient immer als Bestandsanalyse zum Sichtbarmachen auf der einen Seite und als Arbeitsauftrag auf der anderen. Ein Auftrag, sich für die Betroffenen und die konkreten Empfehlungen als Stiftung, Ministerien, Politik und Gesellschaft einzusetzen.

Lenhard-Schramm: Ich erhoffe mir, dass wir für die Conterganstiftung Handlungsempfehlungen erarbeiten können, welche zu einer tatsächlichen Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen führen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die strukturierte und gemeinsame Erarbeitung der Empfehlungen einen bedeutenden Grundstein legen kann und auch im politischen Raum zum Handeln anregt.

 

Können diese Empfehlungen auch für andere, ältere Menschen mit lebensbegleitenden Einschränkungen relevant werden? 

 

Lenhard-Schramm: Die Arbeit der Kommission richtet ihren Blick zunächst gezielt auf die Lebenssituation der Menschen mit Conterganschädigung. Das hat oberste Priorität! Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass die Ergebnisse der Kommissionsarbeit auch Auswirkungen für andere Menschen mit einer lebensbegleitenden Behinderung haben können.

Steffens: Ich denke auch, es wird sicherlich Erkenntnisse und Empfehlungen geben, die für jeden Menschen mit Einschränkungen, ob lebensbegleitend oder altersbedingt, gelten. Vorstellen kann ich mir einiges, aber vor der Empfehlung kommt erst mal einiges an gemeinsamer Arbeit.

Lenhard-Schramm: Die Betroffenen sind in vielerlei Hinsicht „Pioniere“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung. Diese Pionierarbeit muss zwingend fortgeführt und unterstützt werden, auch um den Conterganskandal nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern zu würdigen, welche Errungenschaften sich daraus ergeben haben. Empfehlungen, die sich in Zukunft für andere Menschen mit Behinderung im Kontext von Alter ergeben, sind das Erbe, welches Betroffene durch ihr unglaubliches Engagement hinterlassen werden.

Foto oben: (c) Techniker Krankenkasse NRW/privat

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