Das Bild zeigt Bücher in einer Reihe

Portraits gegen das Vergessen

Zur 60-jährigen Marktrücknahme des Medikaments Contergan trafen sich viele Betroffene Ende des vergangenen Jahres in Köln. Ein Wiedersehen mit alten Bekannten, Mitstreitenden, Weggefährtinnen und Weggefährten. Dabei wurde auch die Idee für ein neues Buch vorgestellt, in dem Menschen mit Conterganschädigung portraitiert werden. Wir haben mit Maya Hässig, eine der Initiatorinnen, über das ambitionierte Projekt gesprochen.

 

Frau Hässig, Sie leben eigentlich im Rheinland, haben ein Büro in Köln, doch wir erreichen Sie heute in der Schweiz…

Ich arbeite seit 27 Jahren in Deutschland, lebe in Bonn und arbeite in einem Gemeinschaftsbüro in Köln. Als gebürtige Schweizerin bin ich aber gelegentlich auch in der Heimat. In Zürich habe ich damals Gestaltung und Grafikdesign studiert.

 

Sie arbeiten derzeit an einem Buch über Menschen mit Conterganschädigung. Wie kam es dazu?

Bei der Arbeit in unserer Bürogemeinschaft liegt ein großer Schwerpunkt auf sozialen Projekten. Beim Kunsthaus Kat 18 ist unser Büro in Projekte involviert. Dort arbeiten Künstlerinnen und Künstler mit geistiger Behinderung. Außerdem gestalten wir seit Langem das Magazin „Ohrenkuss“, gemacht von Menschen mit Down-Syndrom. Daraus sind ein Buch und eine Ausstellung entstanden.

Die Idee zu dem Contergan-Buchprojekt ist zusammen mit Udo Herterich, dem Vorsitzenden des Interessenverbands Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V., entstanden. Der Verband hatte Helga Bergers und mich anlässlich des Jahrestages der Marktrücknahme von Contergan mit der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Der Wunsch des Verbands war und ist es, ein Zeitzeugen-Dokument für die Nachwelt zu schaffen, in dem Betroffene portraitiert werden.

 

Wie kam das Projekt ins Rollen?

Anlässlich des 60. Jahrestages der Marktrücknahme von Contergan folgten mehr als 160 Menschen mit Conterganschädigung der Einladung zu einem zweitägigen „Lebensfest“ nach Köln. In diesem Rahmen wurde der Film „Stimmen gegen das Vergessen“ von Rainer Jagusch erstmals gezeigt. Darin erzählen Betroffene ergreifend wie humorvoll von ihren Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend. Das „Lebensfest“ bot uns die einmalige Chance, daran anzuknüpfen. An den zwei Tagen konnten wir viele Contergangeschädigte aus der ganzen Welt treffen, sie ihre Geschichte erzählen lassen und sie fotografieren.

 

Sie sind also gleich mit der Fotoarbeit gestartet. Funktionierte das so spontan?

Die meisten Gäste des „Lebensfestes“ waren von der Idee des Buchs von Beginn an begeistert. Doch bei einigen gab es auch Vorbehalte. Manche hatten noch nie vor einer Kamera gestanden und sich noch nie mit ihrer sichtbaren Behinderung fotografieren lassen. Hier hat der Fotograf Andreas Biesenbach aber einen vertrauensvollen Rahmen geschaffen, in dem sich alle wohlfühlen konnten. Die Ergebnisse, die authentischen und anmutenden Fotografien, überzeugten schließlich die Teilnehmenden – und die bis dahin noch Unentschlossenen.

 

Wie sind die Fotos konzipiert?

Es sind klassische Portraitfotografien, Fotos ab der Hüfte aufwärts in schwarz-weiß. Es ist also keine Reportage. Die Leute werden so abgelichtet, wie sie sich wohlfühlen und wie sie sich gerne sehen. Ob mit Make-up oder ohne, die Portraitierten sollen sich selbst attraktiv und authentisch finden.

 

Es wird aber auch kein reiner Bildband?

Nein. Das Buch soll möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, aus ihrem Leben zu erzählen. In dem Buch gehören zu einem Portrait also auch Worte. Deshalb haben wir mit allen Personen kurze Interviews geführt, uns für jede und jeden Zeit genommen und immer drei gleiche Fragen gestellt.

 

Welche drei Fragen waren das?

Die erste war: Was war der glücklichste Moment in Deinem Leben? Dann: Was war der traurigste Moment? Und: Was sind Deine persönlichen Wünsche für die Zukunft?

Es zeigte sich dabei zweierlei: Einmal, dass viele der Contergan-Opfer als Kind und Jugendliche oder Jugendlicher Ähnliches erlebt hatten und durchmachen mussten. Zum anderen aber auch, dass die Biografien sehr unterschiedlich sind und jede oder jeder einen eigenen Umgang mit dem Leben gefunden hat. Die Gespräche haben vielfältige Emotionen ausgelöst: Trauer und Wut, aber auch Freude und Energie. Es geht viel Kraft von den Portraitierten aus, deren Ausstrahlung ebenso imponierend wie ansteckend ist. Das hat uns nahezu umgehauen.

 

Lassen Sie mich raten, die Zeit hat oft nicht gereicht?

Es zeigte sich sehr schnell, dass jede und jeder Einzelne aus ihren 60-jährigen Leben sehr viel zu erzählen hat, oft wurden sie während des Interviews immer lockerer. Es würde schwer werden, den Menschen und ihren Biografien in diesem knappen Format eines kurzen Portraits gerecht zu werden. Allein an besagtem Wochenende sind 60 Interviews entstanden, das sind über 30 Stunden aufgezeichnetes Material. Und es soll noch weitergehen.

 

Was machen Sie nun mit dem ganzen Material?

Der Interessenverband hat sich dazu entschieden, eine Art Booklet in Ergänzung zum Fotobuch von uns produzieren zu lassen. Darin sind die redigierten Interviews in vollem Umfang enthalten. Unser Wunsch ist es, die Individualität und diese Kraft, die von den Portraitierten ausgeht, herauszustellen. Es wäre schade, wenn die ganzen Geschichten nicht dokumentiert würden. Der Bildband wird so gestaltet sein, das auf Doppelseiten immer ein Foto plus ein Zitat der jeweiligen Person abgebildet ist.

 

Wie geht es weiter?

Es sollen noch weitere Portraits von Menschen mit Conterganschädigung hinzukommen. Je mehr mitmachen, umso besser. Es haben sich in den letzten Wochen auch schon weitere Personen gemeldet, die gerne dabei wären und sich fotografieren und interviewen lassen würden. Unser Ziel ist es, Foto-Buch und Booklet zum nächsten Jahrestag im November 2022 zu veröffentlichen. Wir tun unser Bestes.

 

Wer sich noch am Projekt beteiligen und fotografieren lassen möchte, kann sich hier melden.

 

Sie haben Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie unser Kontaktformular, um auf diesen Beitrag zu reagieren.