Das Foto zeigt Prof. Friedrich Dieckmann

„Unser Bild über das Alter ist janusköpfig“

Die Lebenslagen von alten Menschen mit einer angeborenen Behinderung und von jenen, die eine solche erst im Alter erworben haben, unterscheiden sich deutlich. Das verbindende Thema ist Teilhabe. Wie ist sie gestaltet, wie ist sie möglich und wie nach individuellen Wünschen und Bedarfen zu realisieren? Zu diesem Thema forscht Prof. Dr. Friedrich Dieckmann an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Wir haben mit ihm gesprochen und Einblicke in das noch junge Forschungsfeld erhalten.

Herr Prof. Dieckmann, Sie befassen sich mit Menschen mit lebensbegleitenden Behinderungen. Können Sie kurz umreißen, womit sich dieser Forschungszweig genau beschäftigt?

Grundlegend für das Forschungsfeld ist zunächst die Unterscheidung zwischen „Ageing with disability“, also dem Älterwerden mit einer Behinderung, die früh im Leben eingetreten ist, und „Ageing into disability“, also dem Erwerb einer Behinderung im Alter. Zentral ist der Begriff der Teilhabe. Denn er bedeutet eine Neuorientierung der Forschung und des Blicks auf Menschen mit Behinderung. Uns geht es darum zu schauen, wie Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und gleichberechtigt an gesellschaftlichen Gütern teilhaben können. Im Unterschied zur traditionellen Reha-Forschung geht es also nicht primär um die Wiederherstellung körperlicher oder psychischer Funktionen.

Nach heutigem Verständnis machen es Beeinträchtigungen zwar generell schwerer, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Aber sie stellen keine unüberwindbaren Barrieren mehr dar, sondern Menschen können trotz Beeinträchtigungen aktiv in allen Lebensbereichen teilnehmen.  

Wie und wodurch passiert das genau?

Einmal durch mein persönliches Umfeld, durch Hilfe und Unterstützung, die ich bekomme, wie auch durch die Umwelt-Gestaltung. Und grundsätzlich auch, indem sich eine Gesellschaft darauf einstellt, indem sie realisiert, dass wir Menschen verschiedenartige Voraussetzungen haben und wir alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen. Der Fokus in der Teilhabe-Forschung liegt daher auf der Frage: Woran wollen Menschen mit Beeinträchtigung eigentlich teilhaben? Können sie das im Alltag? Und: Wo liegen Barrieren oder förderliche Faktoren, die Teilhabe-Chancen zu vergrößern.

Das ist also ein anderer Ansatz als etwa Inklusion?

Ja. Inklusive Umwelten zu schaffen ist ein vielversprechender Weg, um Teilhabechancen zu erhöhen. Inklusion richtet den Blick auch auf Barrieren. Aber exklusive Umwelten sind nicht immer teilhabeschädlich. Denken Sie zum Beispiel an Selbsthilfegruppen. Es geht sehr stark um die selbstbestimmte Teilhabe, auch im Zuge der Individualisierung unserer Gesellschaft. Die Frage lautet also: Kann ich meine Teilhabe-Interessen verwirklichen und damit einen Lebensstil ausbilden, wie ich ihn mir vorstelle?

In der Vergangenheit lag der Fokus stark auf Gleichheit; also auf dem Erreichen gleicher Standards für möglichst alle. Das ist aber vielfach überhaupt nicht gewünscht. In unserer ausdifferenzierten, pluralistischen Gesellschaft geht heute mehr um die Frage, woran will ich teilhaben, was ist für mich persönlich wichtig?

Die Teilhabe-Forschung schaut also viel mehr aufs Individuum?

Ja, weil es immer um das Verhältnis von Umwelt, Individuum und Gesellschaft geht. Und darum, wie das Individuum mit seinen sozialen Bezügen leben und aktiv handeln kann. Das Thema Selbstbestimmung ist zentral, denn die Interessen sind recht unterschiedlich.

Und hier differenzieren Sie zwischen Menschen mit lebensbegleitender Beeinträchtigung und denjenigen, die eine solche erst später im Leben erfahren?

Genau. Wir haben uns stark mit dem Älterwerden beschäftigt. Es macht einen Unterschied, ob man beispielsweise, wie viele Menschen mit Conterganschädigung, ohne Gliedmaßen geboren wurde oder ob man diese durch einen Unfall mit 40 oder 50 Jahren verliert. Das Alter ist somit immer Ergebnis des vorherigen Lebenslaufs. Wir sind im Alter entwickelte Persönlichkeiten, mit all unseren Fähigkeiten, Vorlieben und Interessen. Aber eben auch mit unseren Schwächen. Das Alter ist also sehr vielfältig.

Können Sie das beispielhaft erläutern?

Vielleicht anhand von zwei Aspekten. Man kann es nicht verallgemeinern, aber häufig ist bei Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen die Lebenssituation sehr anders als bei Menschen ohne Beeinträchtigungen. Wir wissen, dass bei ihnen der Prozentanteil derjenigen, der in einer Partnerschaft lebt, eine Berufsausbildung hat oder eine eigene Familie gegründet hat, sehr viel geringer ist als bei Menschen mit späterer Beeinträchtigung im Leben.

Schon der Faktor Erwerbsleben spielt eine große Rolle. Einmal aufgrund von Vorlieben und Interessen, dann für den Status, aber besonders in Bezug auf die Frage des Vermögens und der monetären Mittel. Diese Dinge bedingen einander. Die gute Einbindung in eine stabile Sozialstruktur bedeutet in der Regel auch, dass man mehr Geld zurücklegen konnte.

Der andere Aspekt ist der, dass mit einer frühen Beeinträchtigung sekundäre Krankheitsrisiken einhergehen, die erst im Alter zum Vorschein kommen.

…wie etwa bei Menschen mit Conterganschädigung.

Wir werden später noch drauf zu sprechen kommen, aber grundsätzlich ja. Vor allem jene, die in ihren Extremitäten beeinträchtigt sind. Da wissen wir, dass es sehr häufig durch Überlastungen zu Schmerzen kommt, die mit Fehlstellungen und -haltungen zu tun haben, mit ungünstiger Belastung. Aber das gibt es auch bei anderen Gruppen, gerade bei Menschen mit Cerebralparese oder Multipler Sklerose können solche Erkrankungen häufiger auftauchen. Immer in Relation zur Allgemeinbevölkerung. Wir sind aber keine Mediziner und haben uns deshalb stärker auf die Veränderungen bezogen, die mit der Lebenssituation zu tun haben.

Kann man feststellen, dass es Menschen, die von Geburt oder früh im Leben mit Beeinträchtigungen leben, aufgrund der Gewöhnung und des sozialen Umfeldes „leichter“ haben als solche, die erst zu einem späteren Zeitpunkt unter einer Behinderung leiden?

Teils-teils. Leichter insofern, dass diese Menschen oft früh gelernt haben, mit Abhängigkeiten zurechtzukommen, Unterstützung zu erhalten und Hilfe zu organisieren. Teilweise haben sie auch gelernt, dies einzufordern. Wir sehen das etwa bei Unterschieden im Umgang mit Fremden, zum Beispiel einer Assistenzkraft. Es kann sehr schwierig sein, fremde Menschen in der eigenen Wohnung zu dulden. Ein Mensch mit lebensbegleitender Behinderung lernt früh, damit umzugehen.

Und wenn es später im Leben passiert?

Dann geht es viel um Anpassungsstrategien. Ich muss mich anpassen, wenn das Leben plötzlich anders verläuft, als ich es gewohnt bin oder geplant hatte. Das hat mit dem Selbstbild, mit der eigenen Identität zu tun: Wie erlebe ich, dass ich bestimmte Dinge nicht mehr kann und auf Hilfe angewiesen bin? In dem Sinne ist eine lebensbegleitende Beeinträchtigung schon viel länger Teil der Identität.

Es gilt bestimmt nicht für alle und man kann es nicht pauschal sagen. Aber das ist bei Menschen mit einer Conterganschädigung sicher häufiger der Fall. Sie haben oft schon früh gelernt, ihre Interessen selbstbestimmt zu artikulieren und durchzusetzen. Auch durch die Selbsthilfe, durch das familiäre Umfeld und natürlich auch dadurch, dass es gesellschaftlich thematisiert wurde und sie hier gewissermaßen Pioniere waren. Bei vielen anderen Menschen mit einer lebenslangen Beeinträchtigung ist das aber nicht der Fall.

Sondern?

Wir erleben bei vielen von ihnen, dass sie überhaupt keine Chance erhalten haben, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Ihnen wurde immer gesagt, wo sie hingehören, was geht und was nicht geht. Aufgrund ihres hohen Unterstützungsbedarfs erleben sie eine starke Fremdbestimmung. Dies kann einen Lebenslauf und das Selbstbild stark prägen, wenn man sich nicht frühzeitig anders damit auseinandergesetzt hat.

Es gibt ja Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die kognitiv sehr fit sind, sehr intelligent und bildungshungrig. Ihnen wurde aber allein aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen eine bestimmte Bildung verwehrt. Stattdessen hat man sie an Institutionen verwiesen. Das sehen wir strukturell bis weit in die 1990er Jahre hinein, und vereinzelt bis heute.

Sie schreiben, dass Menschen mit lebensbegleitenden Beeinträchtigungen Gefahr laufen, als Personenkreis „doppelt entwertet“ zu werden. Das müssen Sie näher erläutern.

Generell haben wir zwei divergierende Bilder über das Alter: Das der „jungen Alten“ und das der „alten Alten“. Unser Bild ist janusköpfig. Das eine ist das vom „Golden Ager“, wo das Alter mit ganz vielen Freiheiten und mit Aktivität verbunden ist. Das haben wir natürlich gerne im Kopf.

Das zweite Bild vom Alter ist jedoch mit Einbußen und Einschränkungen verbunden. Mit Gebrechlichkeit, Krankheit oder Einsamkeit. Wenn wir uns das Älterwerden genau anschauen, gehören beide Bilder zusammen wie die zwei Seiten einer Münze. Menschen mit lebenslangen Beeinträchtigungen werden in der Öffentlichkeit aber stets mit dem Bild von Einbußen und Pflegebedürftigkeit im Alter assoziiert. Positive Aspekte der Lebensphase Alter werden ihnen kaum zugeschrieben. Diese defizitorientierte Wahrnehmung von Behinderung wird verstärkt durch die negativen Zuschreibungen an das Älterwerden.

Wie steht es denn um die Teilhabe von Menschen mit lebensbegleitenden Beeinträchtigungen?

Die Lebenserwartung dieses Personenkreises ist in den letzten Jahrzehnten überproportional gestiegen. Die Teilhabe im Alter ist bei Menschen mit lebensbegleitender Behinderung ist aber sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Es gibt jene, die – ganz allgemein gesprochen – schon immer inkludiert gelebt haben. Sie haben gute Voraussetzungen, bestehende Netzwerke etwa, die sie im Alter nutzen können. Was wir aber sehen ist, dass der Unterstützungsbedarf allgemein wächst: Mehr Menschen sind stärker auf professionelle Hilfe angewiesen. Nicht alle haben Angehörige, die das alles leisten können. Wir wissen, bei alten Menschen ohne lebensbegleitende Behinderung sind die Angehörigen ein großer Faktor, um weiter in gewohnten Bezügen leben zu können.

Darauf sind unsere Gemeinwesen noch nicht überall gut eingestellt. Da ist noch sehr viel, was wir verändern müssen. Lernen können wir da auch von anderen Ländern.

Sie plädieren ohnehin für eine Art „Gesamtsicht“ und wollen getrennte Fachgebiete wie Gerontologie und Teilhabeforschung zusammenbringen.

Ja. Teilhabeforschung und Gerontologie können voneinander profitieren. Das wäre unserer Einschätzung nach ein wertvoller Beitrag, um die strikte Segmentierung unterstützender Strukturen für Menschen mit Behinderung und Menschen im Alter zu überwinden – zu Gunsten der Gestaltung inklusiver Gemeinwesen, Gesundheitswesen und Unterstützungs-Angebote. Manche Angebote im Gemeinwesen haben sich schon auf Menschen mit lebenslanger Behinderung eingestellt. Aber ich glaube, dass wir hier noch am Anfang sind.

Um nochmal auf die Menschen mit Conterganschädigung zurückzukommen, haben Sie da irgendwelche besonderen Befunde oder eher die gleichen?

Wir haben nicht speziell zu dieser Gruppe geforscht. Allerdings haben wir für das Land NRW 2015 eine Studie veröffentlicht zur Lebenssituation von Menschen mit lebenslanger Behinderung in Nordrhein-Westfalen. Dort beziehen wir uns auch auf die Studie von Prof. Kruse von 2012. Darin geht es auch um älter werdende Menschen mit lebensbegleitenden Behinderungen und deren sekundäre Krankheitsrisiken.

Es lässt sich wieder nicht verallgemeinern. Aber begleitende Beeinträchtigungen, die in Zusammenhang mit einer Conterganschädigung auftreten, etwa Gehörbeeinträchtigungen, spiegeln sich dann natürlich auch im psychischen Wohlbefinden wider.

Der psychologische Hilfebedarf ist hier sehr hoch.

Ja, und es ist eine wieder aufkommende Erkenntnis, dass Körper und Seele sich eben nicht so einfach trennen lassen. Körperliche und psychische Geschehen sind ganz eng miteinander verwoben. Embodiment ist gerade in der Psychotherapie ein zentrales Stichwort.

Zur Altersweisheit gehört sicher dazu, dass man sein Leben noch mal betrachtet und eben alle Seiten sieht. Das aber ist dann wiederum nicht behinderungsspezifisch. Es gehört einfach dazu, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Und auch, den kommenden Generationen etwas mitgeben zu wollen.

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