Das Bild zeigt ein altes Blutdruckmessgerät

Vitalfunktionen digital messen

Das medizinische Messen von Vitalwerten wie Blutdruck oder Puls erfolgt im Normalfall an den Oberarmen. Doch etwa 90 Prozent der Menschen mit Conterganschädigung haben Fehlbildungen sowohl der oberen als auch unteren Extremitäten. Bei 80 Prozent von ihnen sind die oberen Extremitäten betroffen. Das macht das Messen der Vitalfunktionen zum Problem.

Zwei unterschiedliche Produkte, ein Brust- und ein Handgelenkmonitor, der israelischen Firma Biopeak sollen Abhilfe schaffen. Laut Informationen der Firma sind mit den Applikationen sämtliche Vitalwerte adäquat zu erfassen.

Was die Geräte taugen und ob Menschen mit Conterganschädigung davon profitieren können, haben wir bei Ärzten aus den Contergan-Kompetenzzentren nachgefragt. Während Prof. Dr. Peters in Nümbrecht durchaus lobende Worte findet und das Gerät auf Wunsch einsetzt, lehnt Rudolf Beyer von der Schön Klinik in Hamburg das Mess-System als ungeeignet ab. An weiteren Standorten wird es bislang nicht eingesetzt.

 

Gesucht: Vitalwerte

„Aufgrund fehlender Arme (der sog. Amelie) oder auch erheblich fehlgebildeter Arme ist eine Erfassung von bestimmten Vitalwerten wie z.B. Blutdruck bei Menschen mit Conterganschädigung nur erschwert und/oder nur mit speziellen Messgeräten (z.B. Blutdruckmessmanschette für untere Extremitäten) möglich“, erläutert Prof. Dr. Klaus M. Peters, Chefarzt der Orthopädie und Osteologie an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht. Das Ergebnis sei daher, dass viele Betroffene ihre jeweils aktuellen Vitalparameter, insbesondere den Blutdruck, gar nicht kennen würden.

 

Bis zu 13 Parameter sollen erfasst werden

Die Idee des Biobeat-Brustmonitors und des -Handgelenkmonitors ist es, jeweils eine Reihe von Patientenparametern zu erfassen. So unter anderem die Atem-, Herz- und Pulsfrequenz, den systemischen Gefäßwiderstand oder die Sauerstoffsättigung des Blutes sowie den Blutdruck. Der Brustmonitor zeichnet zusätzlich auch ein Einkanal-EKG auf. Dadurch ergibt sich ein umfassendes Bild der Vitalfunktionen. Soweit die Idee.

Der Brustmonitor wurde nicht speziell für Menschen mit Conterganschädigung entwickelt. Seine Funktionsweise reagiert allerdings auf Menschen mit ähnlichen oder vergleichbaren Erkrankungen oder Fehlbildungen. So misst das Biobeat-Monitoringsystem die Vitalfunktionen in Echtzeit, mit Hilfe drahtloser, nichtinvasiver Medizintechnik. Dafür kann das Gerät mittels eines Einweg-Pflasters an der Brust des Patienten angebracht werden.

Prof. Dr. Peters findet: „Die Biobeat-Überwachungsplattform misst störungsarm zuverlässig die relevanten Vitalparameter, ohne den Patienten oder die Patientin in seinen oder ihren Aktivitäten wesentlich einzuschränken.“ Zudem sei das System bedienerfreundlich, was ihn letztendlich überzeugt habe. Das sieht Dr. Beyer anders. Er bemängelt zunächst die Alltagstauglichkeit des Geräts: „Nach aktuellem Stand wird der Brust-Monitor mittels Pflastersystem angebracht, welches nach dem Duschen erneuert werden muss. Die Sensoren halten sechs Tage.“ Es müsse sich daher erst zeigen, inwieweit Menschen mit komplexen Arm-Handfehlbildungen in der Lage sind, dieses System adäquat und ohne zusätzliche Hilfe zu benutzen.

 

Von Vorteilen und Nachteilen

Ein Vorteil des Geräts: „Beim Einsatz des Brustmonitors ist man von oberen Extremitäten als Messort unabhängig, weshalb diese Messmethode gerade für Contergangeschädigte mit erheblichen Fehlbildungen der oberen Extremitäten geeignet ist“, so Prof. Peters. „Alternativ dazu gibt es auch einen Handgelenkmonitor, der bei Contergangeschädigten mit geringen Fehlbildungen der oberen Extremitäten zum Einsatz kommen kann.“

Widerspruch hierzu kommt aus dem hohen Norden. An der Schön Klinik in Hamburg befasst man sich seit einigen Jahren intensiv mit Bluthochdruck und Folgeerkrankungen bei Menschen mit Conterganschädigung. Da aufgrund der vielfältigen Armfehlbildungen herkömmliche Messgeräte für die Oberarmmessung oft nicht geeignet seien, habe man verschiedene Geräte sowie unterschiedliche Messtechniken ausprobiert. Allerdings: „Das zunächst vielversprechende Messgerät Biobeat haben wir nicht praktisch getestet, weil nach intensiver Prüfung der technischen Dokumentation, der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur und dem direkten Gespräch mit den Entwicklern die Eignung für Menschen mit Fehlbildungen der Arme fraglich war“, resümiert Dr. Rudolf Beyer, Oberarzt Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin. Er folgert daraus: „Eine praktikable und zuverlässige Anwendung des Brust-Monitors scheint nicht bei allen Menschen mit Dysmelien möglich zu sein.“

Denn, so führt Beyer weiter aus: „Das Biobeat Messgerät basiert auf einem Messprinzip, bei dem der Blutdruck initial kalibriert werden muss. Und zwar im Regelfall mittels herkömmlicher Blutdruckmessung am Oberarm.“ Eine solche Kalibrierung sei notwendig, weil sonst die durch den Brust-Monitor angezeigten Werte grundsätzlich falsch seien. Allerdings müsse ein Messgerät, dessen Messwerte diagnostische und therapeutische Maßnahmen beeinflussen, zwingend korrekte Werte liefern. Ergo: „Wenn also die Kalibrierung nicht korrekt durchgeführt werden kann, ist kein Nutzen zu erwarten.“ Andererseits, wenn die Kalibrierung am Oberarm möglich ist, stelle sich die Frage, weshalb nicht grundsätzlich ein herkömmliches Blutdruckmessgerät verwendet werden könnte.

 

Zweckmäßig oder für den Zweck ungeeignet?

Prof. Peters war auf das Messgerät und die Plattform durch eine Frau mit Conterganschädigung aus Baden-Württemberg aufmerksam geworden. Die ersten Probemessungen erfolgten im September 2021. Auch die BILD-Zeitung hatte daraufhin einen knappen Artikel dazu verfasst.

Die Betroffenen, die bisher mit dem System gemessen wurden, hätten sich positiv geäußert, so Prof. Dr. Peters. Geplant sei daher, das Biobeat-System allen interessierten Menschen mit Conterganschädigung für zu messende Vitalparameter, insbesondere des Blutdrucks, anzubieten und im Rahmen einer Studie die erhaltenen Ergebnisse auszuwerten.

Außer in Nümbrecht kommt das Biopeak-Messsystem bislang nicht zum Einsatz. Prof. Volker Stück von der Klinik Hoher Meißner meldet, er kenne „Biobeat“ nicht aus der Praxis, sondern „lediglich durch die zahlreich uns zugeleiteten Werbeprospekte“. Er schließt: „Wir in der Klinik Hoher Meißner haben uns nach reiflicher Überlegung gegen die Anschaffung von Biobeat entschieden.“

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