Dieses Bild zeigt Dr. Manfred Wichmann

„Was nie vergessen werden darf“

Haus der Geschichte in Bonn rückt den Conterganskandal ins Rampenlicht

Mit der Wiedereröffnung der neuen Dauerausstellung am 9. Dezember 2025 unter dem Titel: „Du bist Teil der Geschichte. Deutschland seit 1945“ verleiht das Haus der Geschichte in Bonn dem Conterganskandal einen neuen, festen Platz und öffnet damit Raum für Erinnerung, Aufklärung und Anerkennung. Das ist nicht zuletzt auch für Menschen mit Conterganschädigung ein starkes Signal: Ihr Schicksal wird gesellschaftlich sichtbar und als Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte anerkannt. Eines von 3.850 Exponaten der neuen Dauerausstellung: Eine originale Armprothese, als Leihgabe gestiftet von Margit Hudelmaier, Vorständin der Conterganstiftung.

Warum der Conterganskandal dazugehört

Rund 14,3 Millionen Besucher zählte die Dauerausstellung im Haus der Geschichte zwischen seiner Eröffnung 1994 und der dem Umbau geschuldeten Schließung im September 2024. Trotz des großen Erfolgs war es nach 30 Jahren Zeit für einen Neuanfang und eine komplette Überarbeitung der Dauerausstellung des Bundesmuseums, das als „Gedächtnis der Nation“ fungiert. Denn die räumliche Verteilung der unterschiedlichen Zeitabschnitte und Themen war immer mehr in Schieflage geraten, was sich u.a. daran zeigt, dass zuletzt die 35 Jahre nach dem Fall der Mauer auf einer ebenso großen Fläche vertreten waren wie die ersten vier Jahre nach Kriegsende.

Die „neue“ Ausstellung, eröffnet am 9. Dezember, konzentriert sich auf fünf große zeitliche Blöcke: Die Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Bundesrepublik, der Zeitraum 1949 bis 1989, das Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, die Jahre danach bis zur Gegenwart – und die Gegenwart selbst. Aber die neue Dauerausstellung ist nicht nur zeitlich, sondern vor allem nach Themen gegliedert, die die Zeitgeschichte innerhalb dieser Gliederung erlebbar machen: Ob Einkaufsverhalten oder Fortschrittsglaube, Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Deutschland oder das Erstarken rechter Parteien. Dabei stehen nicht nur große politische Ereignisse im Mittelpunkt, sondern vor allem das Leben einzelner Menschen und deren Erfahrungen.

Die Zeit des Conterganskandals fällt in die Epoche Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre. „Diese Zeit war geprägt von starkem Technik- und Fortschrittsglauben, man flog ins All und glaubte, alles sei möglich und es gäbe keine Risiken. Das gilt für das Atomzeitalter ebenso wie für bahnbrechende Erfolge in der Medizin, wie erste Herztransplantationen“, erklärt Ausstellungsleiter Dr. Manfred Wichmann. Und so war es für die Macher der Ausstellung nur logisch, auch den Conterganskandal, eine der schlimmsten Arzneimittelkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik, hier zeitlich und thematisch anzusiedeln. „Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre nahmen viele schwangere Frauen das Schlafmittel Contergan ein – in dem Glauben, es sei harmlos. Später stellte sich heraus, dass das Medikament bei Tausenden Kindern zu schweren Fehlbildungen führte – ein typisches Beispiel für den unbedingten Glauben an den medizinischen Fortschritt dieser Zeit, dem wir in einer raumhohen Vitrine mit verschiedenen Exponaten aus dieser Epoche gerecht werden wollten“, erläutert Ausstellungsleiter Dr. Manfred Wichmann.

Zu diesen Exponaten zählt ein Original-Pillendöschen und eine Contergan-Verpackung (auch in der „alten“ Dauerausstellung bereits zu sehen), aber auch ein Taschenkalender einer jungen Mutter, in den sie den Geburtstermin vermerkt und einige Worte zu ihrer Not und Verzweiflung geschrieben hatte, sowie eine Original- Armprothese eines betroffenen Kindes. Gespendet wurde diese Armprothese von Margit Hudelmaier. Die Vorständin der Conterganstiftung war eigens im Sommer 2025 nach Bonn gereist, um die Prothese, die sie als Siebenjährige in der Schule getragen hat, an das Bundesmuseum zu übergeben. Hudelmaier: „Ich habe diese Prothese immer als Fremdkörper empfunden, als etwas, das gar nicht zu mir gehört und mir meine Behinderung erst richtig bewusst gemacht hat. Es gibt nun einmal keine einfache technische Lösung für solche Probleme. Dies ist auch heute noch so“. Nun hat die Prothese als Dauerleihgabe ans Haus der Geschichte einen Platz in der Vitrine gefunden, in der sie mindestens zwei Jahrzehnte bleiben wird.

Hier können Sie ein Bild der Übergabe der Armprothese von Margit Hudelmaier an das Haus der Geschichte einsehen.

Eindrucksvolle Präsentation der originalen Armprothese

Dr. Wichmann: „Das Besondere an der Vitrine ist der schwebende Charakter der Exponate. Alle Ausstellungsgegenstände sind so angeordnet, dass sie von mehreren Seiten betrachtet werden können und quasi hinter dem Glas zu schweben scheinen. Dafür wurde eine sehr aufwändige Konstruktion gefertigt, die die Exponate eindrucksvoll in Szene setzt. Die Prothese von Frau Hudelmaier ist ganz sicher ein besonderer Blickfang an dieser Stelle, der vielen Besucherinnen und Besuchern noch lange in Erinnerung bleiben wird. Die Erfahrung von Menschen mit Conterganschädigung, ihr Leben mit den Folgen dieses Skandals – das gehört ebenso zur Nachkriegsgeschichte wie Wirtschaftswunder, Wiederaufbau oder Themen wie die Ahrtal-Flutkatastrophe. Wir erfüllen mit der Einbindung des Themas einen wichtigen Bildungs- und Erinnerungsauftrag“, sagt der Ausstellungsleiter. „Für Betroffene ist die Sichtbarmachung im Museum mehr als symbolisch: Es bedeutet Anerkennung — ihrer Schmerzen, ihrer Lebensleistung und ihrer Existenz. Es bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft sich erinnert, dass das Unrecht nicht verdrängt, sondern dokumentiert und transparent gemacht wird“, so Dr. Wichmann.

Die Entscheidung, die Conterganfolgen fest in die nationale Erinnerung einzubinden, sendet ein starkes Signal: Solche Katastrophen dürfen nicht in Vergessenheit geraten, die Betroffenen müssen gesehen werden. Für Nachgeborene, Angehörige und Gesellschaft insgesamt eröffnet das eine Möglichkeit, Lehren daraus zu ziehen und Verantwortung zu reflektieren.

Was ändert sich mit der neuen Dauerausstellung?

  • Das Haus der Geschichte hat für die Neugestaltung den Umfang der Exponate bewusst reduziert: Statt früher Tausende umfasst die Ausstellung jetzt rund 3.850 Objekte. Ziel ist, Überfrachtung zu vermeiden und Raum für das Wesentliche zu lassen: Menschen und ihre Geschichten.
  • Im Zuge dieses Umbaus hat die Conterganstiftung zwei zentrale Exponate als Leihgaben übergeben: Neben der originalen Armprothese auch das alte Geschäftsstellenschild der Stiftung – letzteres ist jedoch nicht in der Ausstellung zu sehen, sondern wird im Depot aufbewahrt.
  • Durch die Einbindung des Conterganskandals wird sichtbar, dass Geschichtsschreibung nicht nur politisch oder wirtschaftlich gedacht werden darf – sondern auch in sozialen, medizinischen und individuellen Dimensionen. Die Ausstellung stärkt damit das Bewusstsein dafür, wie Arzneimittel, Medizin und gesellschaftliche Verantwortung untrennbar verwoben sind.

Das Haus der Geschichte Bonn legt Wert darauf, seine Ausstellungen für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen — auch für Menschen mit Behinderungen oder Mobilitätseinschränkungen. Für Menschen mit Conterganschädigung bedeutet ein barrierefreier Museumsbesuch weit mehr als Komfort: Damit verbunden sind eine Reihe von Service- und Zugänglichkeitsangeboten. So ist beispielsweise der Haupteingang am Rheinweg / Ecke Willy-Brandt-Allee ebenerdig und mit automatischen Schiebetüren ausgestattet. Auch sind nicht nur der Ausstellungsparcour, sondern auch Funktionsbereiche (z. B. Museumscafé, Untergeschoss mit Toilette) mit Aufzügen und ohne Barrieren erreichbar. Wer möchte kann sich über das Informationsdesk Hilfsmittel ausleihen. Auch Assistenzhunde sind im Museum und in den Ausstellungsräumen zugelassen. Für Personen mit Hörbeeinträchtigung werden bei Führungen elektronische Führungssysteme mit Funk-Ohrhörern angeboten; die Lautstärke lässt sich individuell anpassen, und die Hörer sind kompatibel mit Hörgeräten. Gerade bei einem Thema wie Contergan — bei dem viele Betroffene körperliche Einschränkungen haben — ist Zugänglichkeit kein „Nice to have“, sondern Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit und Sichtbarkeit.

 

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