Das Bild zeigt Margit Hudelmaier, Mitglied im Vorstand der Conterganstiftung.

„Wir müssen das Thema wachhalten!“

Im Contergan-Infoportal wollen wir an diesen Jahrestag erinnern und das Thema in den nächsten Monaten unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Dabei sollen Menschen zu Wort kommen, die auf unterschiedliche Weise betroffen und involviert sind.

 

Im November 1961 wurde der damals frei verfügbare Verkaufsschlager Contergan der Firma Grünenthal nach langem Ringen vom Markt genommen. Viel zu spät, wie Margit Hudelmaier massiv kritisiert. Die langjährige Vorsitzende des Bundesverbandes Contergangeschädigter e.V. und des Landesverbandes Contergangeschädigter Baden-Württemberg e.V. sowie Mitglied des Stiftungsvorstandes der Conterganstiftung, erinnert sich und mahnt gegen das Vergessen.

 

Frau Hudelmaier, der Conterganskandal liegt inzwischen 60 Jahre zurück. 1961 wurde das Mittel vom Markt genommen. Die Herstellerfirma spricht von einer „Tragödie“.

Ich bleibe bewusst beim Wort Skandal, weil die Anzeichen für Schädigungen im Zusammenhang mit Contergan früh genug deutlich waren. Schauen Sie, ich bin im Oktober 1960 geboren, bis es vom Markt genommen wurde, verging noch über ein Jahr. In der Zwischenzeit haben sich viele persönliche Tragödien ereignet. Aber das Wort Tragödie im Zusammenhang mit dem Verursacher klingt mir zu sehr nach Schicksal, das über einen hereinbricht. Bei einem Skandal gibt es Verantwortliche. Grünenthal hat die Warnhinweise einfach nicht ernst genommen bzw. bewusst ignoriert.

 

Vor allem, weil es so ein erfolgreiches Produkt war?

Ja, es war ein Verkaufsschlager, der damals ja noch ohne die heute vorgeschriebene Arzneimittelzulassung auf den Markt kommen konnte. Contergan war rezeptfrei zu haben, breit beworben und günstig. Es hat die Firma sehr reich gemacht. Darauf wollte man ungern verzichten und hat daher die Fakten sehr lange ignoriert oder kleingeredet. Manchmal hat man den Eindruck, das alles sei für Grünenthal schlimmer gewesen als für die tausenden Geschädigten und deren Familien.

 

Hat man damals eher über Warnhinweise hinweggesehen als heute?

Neulich habe ich noch über die Corona-Impfungen diskutiert und da wurde der Zusammenhang mit Contergan aufgemacht. Der Fall damals hat sicher vieles verändert und den kritischen Blick auf die Pharma-Industrie geschärft. Doch auch wenn heute die mediale Aufmerksamkeit eine andere ist und bei Verdachtsfällen womöglich schneller reagiert wird, hätte Grünenthal auch damals viel eher reagieren müssen. Es gab genügend Warnhinweise. Man hätte Contergan vorübergehend vom Markt nehmen müssen, bis alles geklärt ist. Das hätte viel Leid erspart. Und da wiederum liegt ja der Skandal: Man wollte es einfach nicht.

 

Das hat am Ende dazu geführt, dass die Eltern von Kindern mit einer Behinderung erstmals mit juristischen Mitteln ihre Rechte eingeklagt haben.

Zunächst einmal war neu, dass wir Contergan-Geschädigten einen Verursacher hatten, der verantwortlich war für die Schädigungen. Es war eben kein Schicksal von außen oder was Vererbliches. Die Ähnlichkeiten der Erkrankungen wiesen auf einen Zusammenhang hin, der mit der Einnahme von Contergan durch Schwangere als Gemeinsamkeit zu tun hatte­ – nicht etwa mit einem Putzmittel, wie damals unter anderem behauptet wurde.

 

Was waren aus Ihrer Sicht die Faktoren, damit es zu einer solchen Reaktion durch die Eltern der Geschädigten kommen konnte?

Entscheidend waren verschiedene Faktoren. Allen voran unsere Eltern, die sich wirklich in der Sache zusammengetan haben, Netzwerke gebildet und ausgebaut und sich gegenseitig unterstützt haben. Es war schon phänomenal. Alle gemeinsam haben sich gegen diesen Pharmariesen zusammengeschlossen. Es waren die unterschiedlichsten Leute als Eltern betroffen. Darunter eben auch Ärzte, Apotheker oder Rechtsanwälte. Das hat sicherlich geholfen, dass alle ihre jeweilige Expertise eingebracht haben. So waren sich meine eigenen Eltern immer im Klaren, dass sie das allein niemals hätten schaffen können.  Auch die Klinik, in die ich damals kam, hat uns trotz unterschiedlicher Schädigungsbilder nicht isoliert betrachtet, sondern Zusammenhänge hergestellt, untersucht und sich mit anderen Kliniken ausgetauscht.

 

So hat ja nicht nur das Thema Contergan eine Öffentlichkeit bekommen. Durch dieses Engagement haben sich Wahrnehmung und Stellenwert behinderter Menschen generell verändert. Sehen Sie sich bzw. ihre Eltern als Pioniere?

In gewisser Hinsicht ja. Was damals neu war: Die Eltern haben sich ausgetauscht. Es gab gegenseitigen Trost, über diesen Skandal miteinander vereint zu sein. Man hat sich auch geholfen und sich erzählt, was man erlebte. Etwa, wenn man bei den Behörden etwas erreicht oder ein Handwerker etwas für ein Kind mit Conterganschädigung gebaut hatte. Unsere Eltern waren so gesehen die Pioniere der Selbsthilfe. Sie haben sich nicht versteckt, sondern gekämpft. Sie konnten das Problem und den Verursacher benennen. Sie haben auch uns, ihre Kinder nicht versteckt. So kamen wir in die öffentliche Wahrnehmung.

 

Die Heterogenität der Betroffenen war also kein Hindernis in dem ganzen Prozess?

Jeder ist unterschiedlich betroffen, die Schädigungen sind vergleichbar, aber verschieden. Aus heutiger Sicht kann man das Zusammenstehen unserer Eltern gar nicht hoch genug bewerten! Das war damals nicht leicht. Alle hatten ja noch ihr normales Leben. Parallel musste unser weiteres Leben geregelt und geplant werden. Diese Kraft aufzubringen, das war eine beachtenswerte Pionierleistung. Eine solche Einigkeit herrscht unter den Contergangeschädigten fast kaum noch.

 

Wir reden hier über die frühen 60er Jahre, keine halbe Generation nach dem Krieg.

Wenn man betrachtet, in welche Zeit der Skandal und der Kampf unserer Eltern fiel, ist deren Mut umso beachtlicher. Und wie man mit uns nur 15 Jahre zuvor umgegangen wäre, darüber mag man gar nicht nachdenken, obwohl ich es natürlich oft getan habe. Das Aufbegehren gegen eine große, mächtige Firma in einer jungen Demokratie mit sehr konservativer Gesellschaft, das war neu und konnte nicht vorher eingeübt werden.

 

Wie hat sich die Stellung von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft seit den 60er Jahren verändert?

Wieder waren es unsere Eltern, die für uns entsprechende Möglichkeiten gesucht und gefunden haben. Viele Betroffene hatten das Glück, in Regel-Kindergärten und -Schulen unterzukommen. Wir wollten ja keine Sonderrollen haben, aber eben unsere eigenen Rollen im eigenen Leben füllen können. Und auch bei der Jobsuche waren es die Eltern, die uns entsprechend unterstützt haben.

Wenn man auch sagen muss, dass es für einige Mehrfach- und Schwerstgeschädigte nicht möglich war, ein eigenständiges und wirtschaftlich abgesichertes Leben zu führen.  Ich denke schon, dass durch unseren Skandal sehr viele Verbesserungen in Gang gekommen sind. Wir wurden „geopfert“, um etwa bessere Kontrollen bei Medikamenten zu erreichen. Ohne den Contergan-Skandal wäre es bestimmt nicht so streng geregelt wie heute. 

 

Wir haben viel über den Kampf der Eltern gehört. Doch auch den Menschen mit Conterganschädigung selbst sagt man nach, dass sie Kämpfernaturen sind. Stimmt das?

Für Menschen mit Behinderung ist jeder Tag ein Kampf. Sicher hat all das oben Gesagte auf uns abgefärbt. Uns wurde vorgelebt: Du gehörst dazu, du kannst nichts für die Schädigung, du bekommst nichts geschenkt, aber du kannst was erreichen. Wir sind daher vielleicht sehr zum Machen erzogen worden.

 

Wie sehen Sie die Situation der Betroffenen heute?

Wir sind nun alle in einem Alter, wo es stetig anstrengender, der Kampf aber nicht leichter wird. Man ist nicht mehr so vital, wie es andere in unserem Alter noch durchaus sind. Jetzt schlagen sich Langzeitfolgen verstärkt nieder. Man kann unter Umständen aus verschiedenen Gründen nicht mehr arbeiten. Da kann es schon zu Existenzängsten kommen.

Was die Absicherung und die Conterganrente angehen, haben wir in den letzten Jahren sehr viel erreicht. Es war mühsam. Aber der Ansatz war, dass man mit der Höhe der Leistung die höhere Belastung durch die jeweilige Schädigung und den höheren Assistenzbedarf abdeckt. Die Staffelung wurde durchgesetzt. Ein selbstbestimmtes Leben ist dadurch grundsätzlich möglich, auch für die, die aus dem Berufsleben aussteigen mussten oder bei denen Mehrfachschädigungen vorliegen. Die Basis für eine gute Absicherung ist geschaffen. 

 

Was sehen Sie als Herausforderung in der Zukunft?

Wir müssen Botschafter bleiben und das Thema wachhalten. Bald werden neue Menschen in politischer Verantwortung stehen. Auch die müssen mitgenommen werden. Ein nächstes politisches Thema wird die Hinterbliebenenversorgung werden. Und im Bereich barrierefreies Wohnen gibt es Handlungs- und Diskussionsbedarf. Weitere Themen werden sich sicher mit zunehmendem Alter auftun.