Das Bild zeigt ein Gruppenfoto der Teilnehmenden am Gesamttreffen der Kompetenzzentren

Ziel: Mehr Betroffene erreichen, mehr Hausärzte informieren

 

Die Vernetzung der inzwischen zehn multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung geht mit großen Schritten voran. Zu dieser Einschätzung kam Dieter Hackler, Vorsitzender des Vorstandes der Conterganstiftung, in seiner Begrüßungsrede anlässlich des zweiten Gesamttreffens der Zentren in Bad Sooden-Allendorf. Auf Einladung von Gastgeber Dr. Volker Stück, Chefarzt der Orthopädie in der hier ansässigen Klinik Hoher Meißner, waren nicht nur Repräsentanten der Stiftung, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter von sechs der zehn Kompetenzzentren in den Kurort im Werratal gekommen, um sich und ihre Arbeit vorzustellen und sich über aktuelle Herausforderungen auszutauschen. Für Dr. Volker Stück war die Eröffnung des Gesamttreffens mit seinem persönlichen Abschied verbunden, denn der Gründer des Kompetenzzentrums in der Klinik Hoher Meißner gab seinen Rückzug in den Ruhestand bekannt und stellte zugleich seine Nachfolgerin vor: Chefärztin Dr. Katja Biel.

 

Erfahrungen in die Fläche tragen

 

In seiner Begrüßungsrede hob Vorstand Dieter Hackler einmal mehr die große Bedeutung der bundesweit verteilten Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung hervor. „Jedes Kompetenzzentrum hat seinen eigenen Wert und eigene Schwerpunkte in der Betreuung und Behandlung. Die ärztliche Behandlung in der Fläche ist zunehmend gefährdet durch den Ärztemangel und die Schwierigkeit vieler niedergelassener Mediziner, ihre Nachfolge zu regeln. Deshalb ist die Existenz der Kompetenzzentren entscheidend. Ihr Wissen zu bündeln und über Erfahrungsaustausch in die Ärzteschaft zu tragen, ist für Betroffene ganz entscheidend, um eine medizinisch angemessene Versorgung zu erhalten“, so Dieter Hackler. Auch sei die psychosoziale Begleitung von Menschen mit Conterganschädigung im Alter wichtig. Den Möglichkeiten des Internets räumte der Stiftungsvorstand die Chance ein, hier einen wichtigen Part zu übernehmen, beispielsweise in Form von Online-Sprechstunden.

 

Mit Pionierarbeit großes Vertrauen aufgebaut

 

Bevor das Tagesprogramm mit der Vorstellungsrunde der einzelnen Kliniken weiterging, bedankte sich Stiftungsvorstand Dieter Hackler bei Dr. Volker Stück: „Wo immer sich Menschen mit Conterganschädigung wohl gefühlt haben, fiel der Name Dr. Stück. Sie haben Pionierarbeit geleistet mit ihrer Kompetenz und ärztlichen Erfahrung und genießen großes Vertrauen bei Betroffenen, die in der Vergangenheit nicht selten schlechte Erfahrungen mit Medizinern gemacht haben. Sie haben es geschafft, die Menschen abzuholen, sie zu ermutigen und Vertrauen aufzubauen. Wir wissen gar nicht, wie es ohne sie weitergehen soll“, so Dieter Hackler. Sichtlich gerührt nahm Dr. Stück ein Präsent und Blumen entgegen und stellte die große Bedeutung von regelmäßigen Gesamttreffen der Kompetenzzentren heraus: „Wir brauchen den regelmäßigen Austausch, weil sich in der medizinischen Versorgung und auch in der Lebenssituation der Betroffenen immer noch sehr viel ändert. Erfahrungen innerhalb der Kompetenzzentren weiterzugeben ist essentiell für ihren Erfolg“, so Dr. Stück.

 

Bewährte Arbeit weiterführen

 

Wie es sich für eine Vorstellungsrunde gehört, erhielt der Gastgeber das erste Wort: Dr. Stück erinnerte daran, dass in den neunziger Jahren die ersten Patientinnen und Patienten mit Conterganschädigung die Klinik Hoher Meißner aufsuchten, eine Fachklinik für Rehabilitation mit Fachabteilungen für Neurologie und Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zulassung für die Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehandlung (BGSW). 2013 sei eine eigene Abteilung gegründet worden für die Reha von Menschen mit Conterganschädigung mit geschultem Personal und besonders ausgestatteten Patientenzimmern. 2019 habe die Klinik dann bereits zu einem der vier ersten multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren für Menschen mit Conterganschädigung gehört. Heute könne man feststellen, so Dr. Stück, dass ein erhöhter Bedarf an speziell ausgestatteten Zimmern für diese Patientengruppe bestehe, da weniger als zehn Prozent von ihnen noch erwerbstätig sei und das Interesse an kurzfristiger Reha-Wiederholung gestiegen sei. In diesem Jahr haben bereits mehr als 40 Menschen mit Conterganschädigung das Angebot des Kompetenzzentrums in der Mitte Deutschlands in Anspruch genommen, darunter auch Patienten mit Anschlussheilbehandlungen nach Operationen. Künftig werde das Zentrum noch weiter seine Conterganzimmer modernisieren und die bestehende Patenschaft mit dem Verein Contergangeschädigte Hessen e.V. intensivieren.

 

Idee: Notfallausweis für Betroffene einrichten

 

Im weiteren Verlauf des Treffens stellte Dr. Patricia Senghaas das MZEB Bruno-Valentin-Institut DIAKOVERE Annastift in Hannover vor. In der niedersächsischen Hauptstadt hat sich aus dem Annastift die Orthopädische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Kinder- und Neuroorthopädie entwickelt, die zusammen mit anderen Fachabteilungen für Menschen mit Conterganschädigung wirkt. In Hannover werden diese Patientinnen und Patienten interdisziplinär in den Bereichen Orthopädie, Innere Medizin, Neurologie, Urologie, Gynäkologie und Psychiatrie medizinisch behandelt und therapeutisch unterstützt. Im Fokus liege die ambulante Behandlung, wobei zusätzlich zwei großzügig ausgestattete barrierefreie Patientenzimmer zur Verfügung stehen, so Dr. Senghaas. In der Vergangenheit habe das Regionaltreffen Nord der Kompetenzzentren hier im DIAKOVERE stattgefunden. Die Referentin berichtete, dass das Zentrum in der Vergangenheit auf Wunsch einen Notfallausweis für Patienten erstellt habe und regte an, ob dieses Format nicht als Blaupause von anderen Zentren übernommen werden könne.

 

Prävention kommt besondere Bedeutung zu

 

Hier hakte der nachfolgende Redner, Dr. Rudolf Beyer von der Schön Klinik in Hamburg Eilbek, gleich ein: Es müssten allerdings auch die Röntgenbilder mit einbezogen werden. Denn es wäre noch nicht abzusehen, inwieweit die Bereitstellung von Röntgenbefunden in der zur Einführung geplanten Elektronischen Patientenakte (EPA) gegeben ist. Auch Vorstand Dieter Hackler begrüßte dies: „Wir werden die Idee des Notfallpasses auf jeden Fall prüfen, empfehlen aber, sich den Möglichkeiten der elektronischen Patientenakte freiwillig anzuschließen, wenn sie eingeführt wird.“

Dr. Beyer stellte im Folgenden die Contergansprechstunde in der Hamburger Klinik vor. Hier werden vor allem Patientinnen und Patienten mit den Diagnosen kardiovaskuläre Erkrankungen, Stürze und Frakturen sowie Krebserkrankungen vorstellig, was auch Parallelen an Diagnosen in der Allgemeinbevölkerung in dieser Altersgruppe widerspiegele. „Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Thema Gesundheitsvorsorge“, betonte Dr. Beyer. Dies gelte insbesondere für die Krebsvorsorge: „Diese Patientengruppe hat oftmals schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht und meidet deshalb den Gang in die Klinik. Vorsorge ist allerdings ein zentrales Thema, um schlimme Krankheitsverläufe zu verhindern“, ergänzte der Hamburger Mediziner.

 

Wichtiges Ziel: Schwellenängste weiter abbauen

 

Im Anschluss stellte Dr. Frank Kerling das Krankenhaus Rummelsberg vor, das als Fachkrankenhaus für Orthopädie, Unfallchirurgie, Neurologie und Innere Medizin in der Metropolregion Nürnberg fungiert und seit 2018 das MZEB mit einem 15-köpfigen interdisziplinären Team aus Fachmedizinern, Therapeuten sowie einem Sozialdienst, einer Orthopädie- und Reha-Technik und einer Expertin für unterstützte Kommunikation etabliert hat. Noch sei die Inanspruchnahme niedrig, bedauerte Dr. Kerling: „Wir hatten erst sechs Menschen mit Conterganschädigung, die unsere Unterstützung in Anspruch genommen haben, das muss sich ändern. Hier gilt es, Schwellenängste abzubauen“.

Das Heilbad Krumbach wurde anschließend von Peter Heinrich und Janna Neumann präsentiert. Das Heilbad im Landkreis Günzburg in Schwaben versteht sich als modernes Gesundheitsdienstleistungsunternehmen mit mehr als 600-jähriger Tradition. Neben der Rehabilitation nach orthopädischen Eingriffen und Rezeptbehandlungen bietet es ein breites Spektrum an Präventions- und medizinischen Wohlfühlangeboten für Menschen mit Conterganschädigung – insbesondere in Form von Therapiewochen, die seit 2019 in Anspruch genommen werden können. „Wir sind modern ausgestattet mit barrierefreien Zimmern und Wegen, einem Schwimmbadlifter, Dusch-WCs und vielem mehr. Demnächst möchten wir auch Zimmer mit Ganzkörperföhn und besonderen Anziehhilfen ausstatten, um den Aufenthalt hier noch komfortabler zu machen“, berichtete Janna Neumann. Bereits sieben Mal sei der Contergan-Landesverband Bayern bereits vor Ort gewesen: „Das ist jedes Mal ein toller Austausch und bringt weitere Ideen für Verbesserungen“, so Peter Heinrich.

 

Weitere Betroffene von den Angeboten überzeugen

 

Zuletzt ergriff Dr. Friedemann Steinfeldt von der Johannesbad Fachklinik & Gesundheitszentrum Raupennest in Altenberg das Wort und stellte die Fachklinik für Orthopädie und das Gesundheitszentrum vor, das sich zusätzlich auf die Schwerpunkte Unfallfolgen, Schmerztherapie, Verletzungsfolgen und rheumatische Erkrankungen spezialisiert hat. „Von der Ausrichtung her passen wir sehr gut zu Dysmeliepatienten mit Sekundärschäden wie Arthrosen und Degenerationen und Patienten in der Amputationsnachbehandlung. Wir haben zwei Patientenzimmer für Menschen mit Conterganschädigung eingerichtet, sie sind barrierefrei und mit ergonomischem Mobiliar ausgestattet“, so Dr. Steinfeldt. Das Zentrum im östlichen Erzgebirge biete Menschen mit Conterganschädigung Hilfsmittelberatung, Schmerzbehandlung sowie fachübergreifende sozialmedizinische Beratung. „Durch unsere Lage in der ehemaligen DDR gibt es naturgemäß nicht viele Menschen mit Conterganschädigung in unserer Region – dennoch müssen nicht nur wir, sondern alle Kompetenzzentren sich die Frage stellen: Wie erreicht man noch mehr Patientinnen und Patienten, die dieses Angebot bisher noch nicht kennen und in Anspruch genommen haben?“ resümierte Dr. Steinfeldt selbstkritisch.

 

Mit Herzblut und Kompetenz bei der Sache

 

Diesen Gedanken griff der Vorstandsvorsitzende Dieter Hackler in seinem Resümee noch einmal auf: „Die Veranstaltung hat einmal mehr gezeigt, dass sehr viele engagierte und hoch motivierte Mediziner und Therapeuten in unseren modern ausgestatteten Kompetenzzentren arbeiten, die mit Herzblut bei der Sache sind und viel erreichen können. Das bei den Menschen mit Conterganschädigung bekannt zu machen, die wir bisher noch nicht erreichen konnten, und diese Erkenntnisse auch die Ärzteschaft der niedergelassenen Praxen zu tragen, bleibt unsere wichtigste Aufgabe“.

Foto: © Tobias Peissig

 

Sie haben Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie unser Kontaktformular, um auf den Beitrag zu reagieren.