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„Zeichen setzen“

Auch der Bundesverband Contergangeschädigter e.V. erinnerte an den 60-jährigen Jahrestag der Marktrücknahme und hatte zu einem Symposium nach Hamburg geladen. Die journalistische Berichterstattung beschränkte sich jedoch zum Großteil auf die Entschuldigung der Familie Wirtz. Wir haben mit Udo Herterich, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes, gesprochen und blicken nochmals auf die gesamte Veranstaltung zurück.

 

Jahrestage bieten Gelegenheit zur Rückschau und zum Ausblick. So hatte die Conterganstiftung im vergangenen November anlässlich der Marktrücknahme von Contergan vor 60 Jahren zu einem Symposium nach Köln geladen (den Nachbericht finden Sie hier). Aus demselben Anlass hatte der Interessenverband Contergangeschädigter NRW e.V. wenige Tage zuvor ein „Lebensfest“ in Köln veranstaltet. Und auch der Bundesverband hatte zu einem Symposium nach Hamburg eingeladen.

Unter dem Motto „Zeichen setzen – 60 Jahre Marktherausnahme“ trafen in der Hansestadt zahlreiche Expertinnen und Experten mit Betroffenen zusammen, um über die Themen „Sicherstellung der medizinischen Versorgung für Menschen mit Behinderungen und seltenen Krankheiten“ zu sprechen. Hier ging es vor allem um die neuen Kompetenzzentren und deren Aufgaben. In zwei weiteren Themenblöcken standen „Verantwortung, Schuld und Vergebung“ sowie die „Zukunft der Stiftung“ im Zentrum des Austauschs. Die Conterganstiftung war durch den Vorstandsvorsitzenden Dieter Hackler vertreten.

 

Udo Herterich neuer Bundesvorsitzender

Vergangenen September wurde Udo Herterich zum Bundesvorsitzenden des Bundesverband Contergangeschädigter e.V. gewählt. Das Symposium war bei dessen Amtsantritt bereits weitgehend geplant. So hat er die fortgeschrittenen Planungen im Herbst übernommen.

„Mit dem Grundschaden sind viele von uns mit der Zeit klargekommen“, hatte er zur Eröffnung des Hamburger Symposiums gesagt. „Heute geht es darum, die uns pflegenden Personen gut versorgt zu wissen und für uns eine bestmögliche Lebensqualität zu erhalten.“ Damit war der Fokus in der Hauptsache auf Gegenwart und Zukunft der Menschen mit Conterganschädigung gelegt.

„Ein Punkt war auch der gerade anstehende Regierungswechsel nach der Bundestagswahl“, sagt Herterich. „Wir wollten die Veranstaltung daher dazu nutzen, die neue Regierung in die Thematik einzubinden und zu verdeutlichen, wo die wichtigsten Themen liegen und wo Handlungsbedarf besteht.“ Damit seien etwa die Hinterbliebenenrente und die künftige Struktur der Conterganstiftung gemeint.

 

Corona brachte neue Möglichkeiten

Wie immer in den vergangenen zwei Jahren stand das Treffen unter dem eigentlich „ungünstigen Stern Corona“. Doch dies führte dazu, dass die Veranstaltung auch als Online-Symposium live und barrierefrei im Stream zu verfolgen war (Eine Dokumentation der Veranstaltung finden Sie hier). So wurde allen Interessierten eine Teilnahme ermöglicht – auch ohne Anreisen.

Die drei oben genannten Themenschwerpunkte wurden in entsprechend besetzten und moderierten Diskussionspanels behandelt. Zudem gab es einen „Kulturkanal“ und einen „Gedenkraum“. Die Online-Teilnehmenden konnten virtuell zwischen den Räumen wechseln. Mit der technischen Umsetzung zeigten sich Bundesverband wie auch die Teilnehmenden und Betroffenen hochzufrieden.

„Diese Möglichkeit, in alle Räume zu gehen und an allen Themen so umfassend teilzuhaben, gab es so noch nie“, resümiert Herterich. „Was ich besonders gelungen fand, war der Kulturkanal. Dort konnten sich einzelne Menschen darstellen und ihre Themen und Arbeiten präsentieren. Da gab es Musik, Literatur und anderes Künstlerisches.“

Das sei der positive, aufbauende und bunte Teil gewesen. Neben diesem und dem fachlichen Teil gab es aber auch einen Trauerraum. „Wir sollten alle Aspekte des Lebens abbilden, es ist halt nicht immer alles Friede und Freude“, erläutert Herterich. „Für viele Betroffene findet halt leider keine Zukunft mehr statt, die man noch planen und organisieren könnte. Sich das bewusst zu machen und der Verstorbenen zu gedenken war daher eine wichtige Sache für viele von uns.“

Ebenso wichtig sei aber, so Herterich, „dass man den etwa 2.400 noch lebenden Menschen mit Conterganschädigung, die jeden Tag seit sechzig Jahren ihr Leben meistern, eine tragfähige Zukunft sichert... Die Geschädigten sind ein Querschnitt der Bevölkerung. Nicht alle stehen in der Öffentlichkeit.“ Die Protagonistinnen und Protagonisten im „Kulturraum“ seien hier eher die Spitze des Eisberges, könnten aber als Mutmacher für die anderen fungieren.

Die rege Teilnahme am Online-Symposium brachte viele Fragen und Einwürfe in die Diskussionen mit ein. Von einer „rundum gelungenen Veranstaltung“, großer Dankbarkeit und hoher Zufriedenheit ist die Rede. „Die Teilnehmenden fühlten sich inhaltlich abgeholt“, sagt Herterich. Zahlreiche Wortmeldungen und Kommentare von den zugeschalteten Landesverbänden und von Privatpersonen haben den Bundesverband erreicht. Viele davon hat er in seinem jüngsten Jahresbericht zum Nachlesen abgedruckt.

 

Vergeben, verzeihen, vergessen?

Eine der Diskussionsrunden widmete sich dem Thema „Verantwortung, Schuld und Vergebung“. Diesen Rahmen nutzte Michael Wirtz als Vertreter der Eigentümerfamilie des Pharma-Unternehmens Grünenthal und richtete sich mit persönlichen Worten an die Menschen mit Conterganschädigung in Deutschland und Europa. Mit einem Videoausschnitt eines zuvor aufgezeichneten Gesprächs zwischen Michael Wirtz und dem vormaligen Vorsitzenden des Bundesverbandes Contergangeschädigter e.V. Georg Löwenhauser, das exklusiv nur dem Veranstaltungsrahmen vorbehalten war. Darin entschuldigte er sich, auch im Namen seiner Familie, „in aller Offenheit und hochoffiziell“ bei den Betroffenen und ihren Familien. Allerdings nicht für die zugefügten Schädigungen an sich, sondern „für diese Thematiken, die [sich, d. Red.] bei Ihnen in allen diesen Familien abgespielt haben.“

Auf eine Entschuldigung hatten die Betroffenen lange gewartet. Ob diese abstrakt gehaltene Entschuldigung die Verursacher tatsächlich „entschuldigt“, ob man nicht um Vergebung hätte bitten können oder ob damit alles vergeben und vergessen ist, wurde im Anschluss durchaus kontrovers diskutiert. „In der Medien-Berichterstattung ging es in der Folge fast nur noch um diese Entschuldigung und leider weniger um den eigentlichen Anlass, die Marktrücknahme und unsere Zukunft“, bemängelt Herterich.

„Die Behandlung der verschiedenen Themen, die Diskussionsbeiträge und ihre Ergebnisse gehen aber dennoch nicht verloren“, ist Herterich zuversichtlich. „Die gesamte Tagesveranstaltung wurde aufgezeichnet und ist jederzeit wieder abrufbar.“ Der Bundesverband sieht darin eine gute und brauchbare Grundlage, um die Themen der Zukunft für die Menschen mit Conterganschädigung anzugehen.

 

 

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